Demis Volpi (rechts) bei den Proben zu „The thing with feathers“, links: Aleix Martínez

„Ich bin bei meiner Kompanie“

Der Ballett-Intendant und seine Pläne – ein Gespräch mit Demis Volpi

Mit „The Times Are Racing“ startet das Hamburg Ballett in seine erste Saison unter neuer Leitung. Da steht Neues neben bewährten Neumeier-Stücken – eine clevere Mischung.

Hamburg, 24/09/2024

Lassen Sie uns auf die Spielzeit 2024/25 schauen. Die erste Premiere am 28. September besteht aus vier sehr unterschiedlichen Stücken von Pina Bausch, Hans van Manen, Justin Peck und Ihnen selbst. Wie kam es zu dieser Kombination?

Anfangs dachte ich: Lass uns doch einen Abend machen, an dem wir zeigen, was in den vergangenen 50 Jahren außerhalb Hamburgs passiert ist. Ich musste diese Idee dann aber schon bald wieder verwerfen. Denn egal, was wir gezeigt hätten, es hätte immer etwas gefehlt. Deshalb sind wir davon wieder weggekommen, aber ein Stück von Pina Bausch als Ausgangspunkt ist geblieben. Die Frage war nur: welches? Darüber war ich dann im Gespräch mit Pinas Sohn Salomon Bausch, der ihre Stücke jetzt mit der Pina Bausch Foundation verwaltet. Ich fand, dass das „Adagio“ ein guter Einstieg wäre. Es ist 1974 – vor 50 Jahren – erstmals gezeigt worden und danach nie wieder. Es war also fast genau der Zeitpunkt, an dem John Neumeier hier begonnen hat. Gezielt diesen Zeitpunkt in der Tanzgeschichte von einer anderen Seite aus zu beleuchten, finde ich spannend. Und es zeigt, dass der klassische Tanz, das Ballett, auch bei Pina der Ursprung ist. Dadurch wird es sich gar nicht so fremd anfühlen, weder für die Tänzerinnen und Tänzer noch für das Publikum.

 

Wollen Sie auch größere Stücke von Pina Bausch nach Hamburg holen?

Darüber denke ich gerade nach. Aber erstmal fangen wir mit dem „Adagio“ an. Alles Weitere wird sich zeigen. Wichtig für mich ist, dass wir hier ein Repertoire aufbauen, das anders ist als das anderer Ensembles. Hamburg hatte immer ein sehr eigenes Repertoire.

 

Allerdings mit einem großen Schwergewicht auf John Neumeier, der immer vertreten hat, dass das Hamburg Ballett eben seine Kompanie ist, die den Stempel seiner Handschrift tragen soll. Das hat durchaus etwas für sich, wenn der Direktor zugleich der Chefchoreograf ist. Es ist ja auch eine Chance, ein Ensemble unverwechselbar zu prägen. Der Nachteil ist, dass eher selten Stücke anderer Choreografen gezeigt wurden, und wenn, dann meist nur kurze Zeit.

Genau das finde ich aber spannend, und aus diesem Gedanken heraus ist der Rest des Abends entstanden: Wir zeigen etwas Neues. Etwas, was das Publikum noch nicht kennt oder zumindest noch nicht in Hamburg gesehen hat. Und wir zeigen, dass man damit trotzdem nicht fremdeln muss. Die choreografische Sprache von Hans van Manen basiert ohnehin auf dem Ballett. Mein Stück „The thing with feathers“ ist auch sehr klassisch, ganz aus einem Gefühl heraus choreografiert, und die Musik – Richard Strauß‘ „Metamorphosen“ – dürfte dem Publikum nicht ganz fremd sein. Mit „The Times Are Racing“ von Justin Peck wollte ich zeigen, dass Ballett auch weitergeht, dass es sehr heutig ist. Selbst jemand, der noch nie Ballett gesehen hat, wird überrascht sein, wie zeitgemäß sich das anfühlt. Und trotzdem ist Ballett in seiner ursprünglichen Form absolut erkennbar.

 

Im Dezember gibt es zwei Werke zu sehen: eines von William Forsythe, ein Choreograf, der wie John Neumeier beim Stuttgarter Ballett unter John Cranko seine Laufbahn begonnen hat, und von dem wir gefühlte Ewigkeiten nichts mehr gesehen haben hier. Das andere ist von der Kanadierin Aszure Barton aus Ihrer Generation. Warum haben Sie diese beiden an einem Abend zusammengespannt?

Für mich gehören die Arbeiten von William Forsythe in das Repertoire jeder klassischen Kompanie. Es gibt Marius Petipa, es gibt George Balanchine. Der nächste Schritt, was die Entwicklung der klassischen Linie betrifft, sie immer weiter ins Extreme zu führen, ist William Forsythe. Ich denke, es ist wichtig für die Kompanie, dass sie diese Arbeit kennenlernt. Es wird ihre Sicht auf die Balletttechnik bereichern – als Herausforderung, aber auch als Weiterentwicklung dessen, was sie schon kennt. Es ist wichtig, dass die Tänzer*innen mit Forsythe in Verbindung kommen. Für das Publikum wird es auch interessant sein, diesen Schritt mit uns zu gehen. Da bin ich mir sicher.

 

Sie haben von Forsythe sein letztes Stück „Blake Works V (The Barre Project)“ ausgesucht. Warum?

Es ist ein besonderes Stück, das er in der Corona-Zeit angefangen hat. Er hat es nach der Pandemie weiterbearbeitet und ergänzt. Wir übernehmen jetzt die neueste Version aus der Mailänder Scala. Forsythe hat Humor, eine gewisse Ironie, wie er mit der Tanzsprache umgeht, und eine enorme Freude am Tanz. Trotz der Nostalgie in der Musik von James Blake ist diese Arbeit ungemein lebensbejahend. Ich freue mich sehr, dass wir das zeigen dürfen.

 

Und dann die Kanadierin Aszure Barton – mit einer ganz neuen Choreografie von ihr zu einer ebenfalls neu zu komponierenden Musik von dem US-amerikanischen Trompeter und Komponisten Ambrose Akinmusire. Wie kam es zu dieser Wahl?

Mit Aszure habe ich in Düsseldorf schon dreimal zusammengearbeitet. Sie ist eine Choreografin, die sich in ihrer Arbeit kaum beschreiben lässt, weil sie mit jedem Stück, das sie macht, etwas anderes erschafft. Sie ist eine sehr eklektische Künstlerin, immer für eine Überraschung gut. Trotz der Vielfältigkeit verbindet alle ihre Werke, dass sie die Verletzlichkeit des Menschen zulässt, sowohl im Entstehungsprozess als auch auf der Bühne. Sie lässt sich sehr auf die Künstlerinnen und Künstler ein, mit denen sie arbeitet. Ich finde es einfach spannend zu schauen, was in dieser Begegnung entsteht. Diese Sensibilität zu erleben, im Studio, mit einer Künstlerin, die gleichzeitig sehr viel fordert, wird der Kompanie guttun. Für das Publikum wird sich das vermutlich erstmal neu anfühlen. Da kann ich nur empfehlen, sich das Stück mehr als nur einmal anzuschauen, um darin immer wieder Neues zu entdecken.

 

Wollen Sie damit das Hamburg Ballett für die jüngeren Generationen attraktiver machen? Der Altersdurchschnitt im Publikum hier ist ja eher hoch.

Das ist sicher auch ein Aspekt, aber ich habe mir das nicht strategisch überlegt. Man kann einen Spielplan nicht so abarbeiten, dass man bei jedem Abend ein Häkchen macht und sagt: Das ist für die Jungen, das ist für die Älteren. In solchen Kategorien denke ich nicht. Ich wollte einen Abend, der für jede Altersgruppe passt. Ich empfinde mich selbst mit meinen 38 Jahren als jungen Menschen und ich schaue auf das Ballett mit dem Blick meiner Generation. Mich interessieren viele unterschiedliche Werke und Künstler*innen, ich bin da sehr offen und neugierig. Und ich hoffe natürlich, dass sich zukünftig auch Menschen für das Hamburg Ballett interessieren werden, die uns bisher noch nicht entdeckt haben.

 

Ihr erstes abendfüllendes Werk für das Hamburg Ballett wird im Sommer 2025 „Demian“ sein, nach dem Roman von Hermann Hesse. Wie kam es dazu?

Die Idee dazu hatte ich schon länger. Als ich 2010 von Reid Anderson den Auftrag bekam, ein abendfüllendes Stück für das Stuttgarter Ballett zu kreieren, das sowohl für ein junges wie für ein erwachsenes Publikum funktionieren könnte, habe ich mir unter anderem auch „Demian“ angeschaut. Damals habe ich mich aber dagegen entschieden, weil mich die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend so sehr mitgenommen hat, dass ich das Gefühl hatte, den Stoff nicht mit genügend Distanz betrachten zu können. Jetzt finde ich, dass das Hamburg Ballett die richtige Kompanie für diese Vorlage ist, denn weltweit bringt keine andere Kompanie eine solche Erfahrung in der Erstellung von Handlungsballetten mit. Diese Kompetenz, dieses Wissen, diese Haltung ist ein wichtiger Aspekt, warum ich mich entschieden habe, die Idee von „Demian“, die mich schon länger verfolgt, jetzt endlich umzusetzen. Es gibt so viele Gründe, warum ich „Demian“ jetzt mache. Die ehrlichste Antwort ist wahrscheinlich: weil es sich richtig anfühlt. Ich kann versuchen, das zu rationalisieren, aber eigentlich ist es ein Gefühl.

 

Worum geht es bei „Demian“?

Es geht um die Selbstfindung eines jungen Mannes; es ist eine Reise nach innen. Ich schätze, dass er so um die 22 Jahre alt ist, wenn das Buch zu Ende geht, so genau weiß man es nicht. Hesse hat es unter dem Pseudonym Emil Sinclair geschrieben, es sollte ein autobiografisches Werk sein. Er hatte gerade seine erste Psychoanalyse mit einem Schüler von Carl Jung hinter sich. Das führt dazu, dass das Werk sehr surreal ist. Es birgt ein großes Geheimnis und löst eine große Faszination aus, es gibt Bilder und Szenen, die man vielleicht nicht ganz versteht. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am Ende kommt sehr unvermittelt und überraschend, denn Emil bekommt diesen zunächst nicht mit. Meiner Meinung nach passt das Buch auch gerade deswegen gut in die Zeit, in der wir leben.

Man liest das heute und denkt: Alles wiederholt sich. Auch deswegen fand ich es wichtig, das Stück jetzt umzusetzen. Im Kern geht es um die Identitätssuche von Emil, vielleicht sogar einer ganzen Generation. Einer Generation, die die Kriterien für sich noch nicht richtig definiert hat. Die junge Generation von heute wächst mit so viel Informationen auf wie noch keine Generation davor, und vielleicht weiß sie manchmal deshalb nicht so genau, woran sie sich orientieren soll. 

 

Schauen wir auf die Werke, die Sie von John Neumeier zeigen werden. „Nijinsky“ kommt wieder, ebenso „Endstation Sehnsucht“, „Romeo und Julia“, „Tod in Venedig“, „Epilog“, „Odyssee“, „Der Nussknacker“ in der Weihnachtszeit, die „Matthäus-Passion“ zu Ostern. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Auswahl zusammengestellt?

Es gibt da zum einen pragmatische Gründe. Wir haben beispielsweise eine Einladung mit „Tod in Venedig“ für ein zukünftiges Gastspiel, dann wollen wir es natürlich in Perfektion zeigen und nehmen es schon im Februar als Wiederaufnahme in Hamburg ins Programm. Weitere wichtige Fragestellungen sind: Wie schafft man eine Balance für die Kompanie und ebenso für das Publikum – thematisch, inhaltlich, ästhetisch, künstlerisch? Ein schöner Zufall, wenngleich logistisch für mich kompliziert, ist, dass am selben Tag der Wiederaufnahme von „Tod in Venedig“ in Hamburg die Wiederaufnahme meiner Version zu Musik von Benjamin Britten in Stuttgart stattfindet. Das ist wirklich purer Zufall. Und ich weiß natürlich schon, wo ich an diesem Tag bin.

 

Nämlich? 

Hier natürlich. In Hamburg. 
Bei meiner Kompanie.

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