Mario Schröder

Mario Schröder

„Zimmermann, Scholz, das war ein Abenteuer“

Mario Schröder bilanziert im Interview seine Zeit in Leipzig

Mario Schröder verlässt nach 14 Jahren die künstlerische Leitung des Leipziger Ballett. Ein Bilanzgespräch über große Vorbilder wie Gret Palucca, Uwe Scholz und Charlie Chaplin und die Frage, was Tanz ausmacht.

Leipzig, 07/06/2024

Wann standen Sie das erste Mal auf der Bühne in der Leipziger Oper?

Das müsste 1983 gewesen sein, ich hatte ein Vortanzen. Ich bin ja Schüler der Palucca-Hochschule in Dresden. Wir durften Wünsche aufschreiben, wo wir hinwollten. Für mich kamen nur die Komische Oper Berlin und die Oper Leipzig in Frage. Nach Dresden wollte ich nicht. Ich wollte die Welt entdecken oder besser: die damalige kleine Welt.


In Leipzig wollte man Sie?

Ja, ich wurde gefragt, ob ich nach Leipzig will. Ich habe hier ein Training mitgemacht und kann mich noch sehr gut an den Bahnhof erinnern. Ich stand in dieser Stadt und dachte: „Oh Gott, was mache ich hier?“ Alles war grau, das werde ich nie vergessen. Leipzig galt als choreografisch sehr innovativ unter dem damaligen Ballettdirektor und Chefchoreografen Dietmar Seifert.


Also zogen Sie mit 17 Jahren hierher.

Ich habe im Waldstraßenviertel gewohnt, in der Untermiete. Das war keine Kommune, das waren verschiedene Menschen, die in einer Riesenwohnung wohnten. Da war eine ältere Dame, die sollte früher mit einem indischen Prinzen verheiratet werden. Total verrückte Storys. Ich habe mich schnell in die Company, in die Arbeit verliebt. Ich war ein Workaholic, stand von früh bis abends im Saal. Relativ schnell wurde ich dann zum Ersten Solisten, für mich war das aber nicht so wichtig. Mercutio aus „Romeo und Julia“ 1984/85 war eine meiner entscheidenden Rollen: Da vereinten sich die künstlerische Entwicklung und das eigene kreative Momentum. Das war eine superschwere Rolle, die mehr Applaus bekam als der Romeo.


Sie sind in Finsterwalde aufgewachsen, wie kommt man da zum Tanzen?

Eigentlich habe ich Fußball gespielt. Unsere Mutter hat ein sehr gutes Gespür gehabt, ob wir uns wohlfühlen. Sie merkte: Mittelstürmer passt nicht mehr. Eines Tages kam sie mit der Annonce, dass die Palucca-Schule Ballettstudenten sucht. Dresden klang gut, ich wusste nicht, was Ballett ist. Sie sagte mit Mutterinstinkt: Ballett ist das, was Charlie Chaplin macht. Und das war für mich der Ansatz. Für mich als Stummfilmfreund war Charlie Chaplin mein Favorit.


Und in Dresden wurden Sie gleich angenommen?

Die vier Tage Prüfungen – auch Gret Palucca war anwesend – waren für mich eine total neue Welt. Wir sollten improvisieren. Erstens wusste ich nicht, was Improvisation ist, zweitens wusste ich nicht, was Tanzen ist, drittens wusste ich nicht, was sie wollten. Da stand ich in meinen Fußballerhosen, barfuß, das erste Mal auf Holzfußboden, Tanzparkett und war gelähmt. Das habe ich der Lehrerin erzählt. Und sie sagte: Erzähl mir das mit deinem Körper. Sie gab einen Hinweis an den Pianisten. Da wagte ich meine ersten Schritte. Das hat was mit mir gemacht. Ich bin raus aus dem Studio und dachte: Wow, was war denn das gerade? Das hat mich seitdem begleitet. Ich war relativ schüchtern, aber wenn ich anfing zu tanzen, verlor ich mich. Dann war ich immer zu tausend Prozent drin. Ich konnte nicht nur mich selbst vergessen, sondern konnte viele Sachen über mich selbst erzählen und auch das, was ich reflektiere.


Was bedeutet 1989 für Sie?

Ich hatte vorher Reiseverbot und all diese Sachen, bin wirklich so ein bisschen in die Mangel genommen worden. Ich hatte das Angebot für eine Westeuropa-Tournee als Solotänzer – den Pass dafür bekam ich aber nicht. Für mich war klar, ich will etwas verändern und kann das vielleicht mit dem, was ich mache – also Tanzen –, erzählen. 1989 bin ich zur Nikolaikirche gegangen, wo auch noch der Kessel um die Kirche gezogen wurde. Ich hatte Freunde bei „Schwerter zu Pflugscharen“. Viele wollten ausreisen. Ich habe nicht wirklich verstanden, warum sie wegwollten, warum sie nicht hier bleiben und etwas dafür machen. Ich wäre nie abgehauen, selbst wenn ich auf Tournee gedurft hätte. Wegen meiner Familie und Freunde hätte ich das nie gemacht.


Gab es nach 1989 trotzdem den Impuls: Jetzt steht mir die Welt offen?

Ja, aber anders. Ich habe gesagt: Leipzig ist meine Wurzel. Wenn ich raus in die Welt will, muss ich fixieren, wo ich zu Hause bin. Dann kam 1990 Udo Zimmermann an die Oper und später Uwe Scholz als Ballettleiter nach Leipzig. Das war für uns alle ein Abenteuer und für mich die kreativste Zeit überhaupt. Was hier für Regisseure kamen! Natürlich gab es auch Widerstände. Aber ich hatte das Gefühl, dass Leipzig wirklich an einem politischen, gesellschaftspolitischen Prozess beteiligt ist und das Theater zu einem Fokus wird. Und dieses „Herr Zimmermann hat die Häuser leer gespielt“ ist totaler Quatsch, weil revolutionär war, was passierte. Das war einer der stärksten Intendanten, den ich je erlebt habe. Mit Uwe Scholz gewann ich natürlich auch einen Freund und Mentor.


Mit ihm verbindet Sie eine Menge.

Wir haben uns nicht nur super verstanden, sondern gegenseitig wirklich ausgetauscht. Er ist 1991 hierher gekommen, als hier noch Sodom und Gomorrha herrschte, inklusive einiger Abstürze – ich habe Freunde, die völlig durchs Netz fielen und obdachlos wurden, obwohl sie an der Semperoper getanzt haben. Bei Scholz konnte ich mich voll einbringen, wie damals bei „Pax Questuosa“. Es war nachts, ich hatte schon mein erstes Bier getrunken. Da rief er mich an, er würde jetzt gerne das Solo mit mir machen. Ich war um ein Uhr hier im Studio. Er hat die Musik gespielt und gesagt: Ich stelle mir gerade das und das vor. Ich fing an zu tanzen und er sagte: Das ist super, behalt das. – Wir haben das fixiert und waren um zwei Uhr fertig. Dann haben wir noch in der Nachtbar am Hotel abgehangen bis früh um sechs. Das ist eine andere Zeit gewesen.


In Leipzig sind Sie unter anderem bekannt für biografische Ballette wie „Chaplin“ und „Morrison“. Wie bricht man so ein Leben auf anderthalb Stunden Tanz runter?

Meist habe ich das Gefühl, dass es viel länger gehen müsste, zwei Tage, drei Tage, damit man wenigstens ansatzweise da hinkommt. Andererseits ist es natürlich gut, dass man reduziert, versucht, den Kern zu finden, ohne sich zu verlaufen. Interessant ist an solchen Figuren immer dieses Existenzielle und die Authentizität in dem, was sie gemacht haben. Sie haben etwas gemacht, woran sie geglaubt haben, dass sie eine Stimme haben. Künstler halt. Wir haben hier eine der schönsten Bühnen und eins der besten Orchester der Welt. Das sind großartige Künstler, mit denen man zusammenarbeiten kann.


Dennoch sind Sie mit der „Intershop“-Reihe rausgegangen in andere Räume, versuchten, die Stadt neu zu greifen.

„Intershop“ und „Tanz in den Häusern“ waren für mich ein Ansatz, die Türen nach außen zu öffnen. Für wen machen wir das? Das sind immer die Menschen. Ich hätte das gern ausgedehnt ins Umland. Es reicht nicht, dass wir hier warten, bis die Leute zu uns kommen. Kommunikation ist etwas sehr Wichtiges. Wenn ich die Leute nicht erreiche mit dem, was ich auf der Bühne mache – weil sie eine Scheu haben vor dem Haus oder vor klassischer Musik –, dann muss ich auf die Leute zugehen, reden und zeigen, wie toll Tanz ist. Das hat funktioniert. Es gibt immer den Ansatz des Dialoges, um Menschen zu berühren.


Bei „Fusion“ und „Giselle“ haben Sie Künstler eingeladen, die überhaupt nicht vom Tanz kommen.

Das war schon als Student mein Ansatz, dass ich immer öffne, also auch Kategorien zu öffnen versuche. Gerade in der Musik, denn Musik ist der beste Freund eines Tänzers, manchmal auch der Feind, der oder die Geliebte. Palucca hat gesagt, Musik ist wie deine Familie. Du musst aber in der Lage sein, deinen Partner loszulassen. Gib ihm die Freiheit, damit du ihn wieder neu entdecken kannst. Ich höre wahnsinnig gern Musik in den verschiedensten Kategorien. Musik ist immer auch eine Entdeckungsreise, wo ich mich selbst nicht nur reflektieren kann, sondern wo es mir ermöglicht wird, auf die Suche zu gehen. „Pax Questuosa“ kannte ich schon, bevor es hier gemacht wurde. (1982 uraufgeführtes Werk von Udo Zimmermann für Soli, drei Kammerchöre und Orchester nach Dichtungen von Franz von Assisi, Czesław Miłosz und deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, Anm. d. Red.) Das war für mich eine der grandiosesten Musiken im modernen Bereich. Die Öffnung war für mich immer wichtig, zum Beispiel mit Thomas Leboeg das „Nibelungenlied“ zu machen. Aber auch das Risiko einzugehen, Bachs „Magnificat“ mit traditioneller indischer Musik zu mischen und zu überlegen, was denn Bach in der heutigen Zeit ist. Was habe ich mit Bach zu tun, hier und jetzt? Wenn es mich berührt, stelle ich sofort die Frage: Wie kommt das?


Ist so ein Ballett-Ensemble eigentlich mehr Gemeinschaft oder eher die Ansammlung von miteinander konkurrierenden Mitgliedern?

Es gab nach 1989 auch einen Generationswechsel. Wobei ich das gar nicht so gesehen habe, dass die Generationen sich wechseln, sondern dass auf einmal viele Menschen aus aller Herren Länder kamen. Deshalb habe ich es als Bereicherung empfunden, dass die Mentalität sehr unterschiedlich war. Alles hat sich damals festgemacht an Uwe Scholz. Und über das Gesicht Uwe Scholz ist es nach außen hin gelungen zu sagen: Es ist das Leipziger Ballett. Das ist notwendig, damit wir eine Brücke schlagen können nach draußen. Eine Company denken hat etwas mit Gemeinschaft zu tun. Wir machen gemeinsam Kunst. Das muss man lernen. Menschen können natürlich eine Gruppe formen, das ist genau die Aufgabe des Direktors. Deswegen hilft es auch, jemanden zu haben wie meine drei Ballettmeisterinnen. Das hat was mit Vertrauen zu tun und das ist absolut notwendig. Und dass wir ehrlich zueinander sind.


Ist das der Kitt der Company?

Vertrauen ist die Basis für alles, was wir machen. Sonst ist das viel zu anstrengend da oben. Ich habe oben in meinem Büro nicht nur die Tagesjahre, sondern auch die Nachtjahre verbracht, um zu kreieren. Da ist man allein, da ist man einsam, obwohl man mit so vielen Künstlern zusammenarbeitet. Die Entscheidungen zu treffen, ist nicht ganz ohne, sondern eine Riesenverantwortung. Da habe ich auch meine Erfahrungen bis hin zur Selbstausbeutung gemacht, mit Krankenhaus und allem Drum und Dran. Bis zur Erschöpfung zu arbeiten und nicht mehr aufstehen zu können, weil man total k. o. ist.


Sie hören in Leipzig als Ballettdirektor auf. Können Sie schon über neue Pläne plaudern?

Was ich sagen kann: Ich werde in Leipzig bleiben. Zumindest vorläufig und werde schauen, was es für mich bedeutet. Ich habe viel Feedback bekommen, dass mich die Leute gern hierbehalten würden, was schön ist. Auch von Zuschauern, die mir Briefe schreiben und reflektieren, was ich gemacht habe. Sie sind teilweise nicht nur traurig, sondern erbost über diese Entscheidung. Es war ja nicht meine Entscheidung zu gehen. Ich habe 1999 meine erste Company übernommen. Ich glaube, das ist meine 16. Theaterleitung in drei Companys. Ich bin jetzt bei 120 Stücken. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich aufhören möchte, und das ist ein gutes Zeichen.


Das letzte Jahr war schwer für Sie?

2023 war nicht das beste Jahr, auch nicht für Silvana, meine Schwester, die ja auch nicht selbst entschieden hat zu gehen. Sie hat eine Riesensache aufgebaut in Thüringen mit dem Staatsballett (Silvana Schröder war seit der Spielzeit 2011/12 Direktorin und Chefchoreografin des Thüringer Staatsballetts, Anm. d. Red.). Und 2023 hatte einen sehr, sehr negativen Abschluss mit dem Tod unserer Mutter zwischen Weihnachten und Neujahr.


Sie war für Sie beide eine extrem wichtige Konstante?

Total. Ich muss jetzt die Dinge noch von einer anderen Perspektive betrachten. Wir lieben das, was wir machen. Das ist unser Leben. Der menschliche Körper ist unser Leben, so der Geist, die Seele, die das Ganze füllt. Der Tod unserer Mutter hat uns gezeigt, dass das Leben sehr kurz ist. Wir müssen schauen, dass wir mehr Zeit verbringen mit den Menschen, die wir lieben. Wir verlieren viel zu viel Zeit mit anderen Sachen. Wir lieben unsere Arbeit, und die ist immer stark angedockt an Menschen, was einen durchaus positiven Blick auf das Kommende schafft. Wir sind neugierig, und das ist gut nach all diesen Verletzungen zwischenmenschlicher Art.


Von Ihrer „Nicht-Verlängerung“, wie es im Theaterbereich heißt, haben Sie ganz technokratisch per Brief erfahren?

Diese Abläufe waren sehr schwierig, also von der Kommunikationsweise und von der Art her. Man darf nicht vergessen, diese 14 Jahre Arbeit hier, das heißt ja nicht, einfach nur Arbeit zu machen, sondern auch etwas zu hinterlassen. Das Leipziger Ballett war für mich immer Heimat. Also fühlt sich jetzt ein bisschen so an, als würde man aus der Heimat rausgeschmissen. Das hat nichts mit Besitzansprüchen zu tun, sondern damit, dass ich ganz und gar darin aufgegangen bin. Das hat sehr stark auch mit der Stadt zu tun, denn ich liebe Leipzig, ich liebe die Menschen, die hier sind. Es ist ein Unterschied, ob man in München oder Hamburg etwas macht oder hier. Leider ist es nicht gelungen, diese Kontinuität zu setzen. Das macht mich total traurig. Das Feedback in der Company ist fantastisch. Also die Tänzerinnen und Tänzer meine ich und meine drei Ballettmeisterinnen. Alle anderen sind außen vor.


Tanzen Sie noch für sich selbst oder in Gesellschaft?

Ich hatte eine Zeit, in der ich immer unterwegs war und in Clubs tanzte. Das mache ich jetzt nicht mehr, nicht nur aus Erschöpfung von der Arbeit, sondern weil sich mein Interesse verlagert hat. Ich lese lieber noch ein Buch oder verbringe Zeit mit Menschen. Ich mache meine Choreografien, teilweise am Schreibtisch. In meinem Büro steht ein Spiegel und ich probiere davor aus. Der Balletttänzer lernt von klein auf, in den Spiegel zu gucken. Ich habe das immer gehasst.


Jede Bewegung auf der Bühne ist einmal durch Ihren Körper gegangen?

Mindestens einmal. Ich habe außerdem ein dickes Buch, da habe ich alles aufgeschrieben. Darin zeichne ich auch Figuren auf, wer wohin geht. In Strichmännchen und verschiedenen Farben. Wenn ich dann im Studio die Leute vor mir habe, gucke ich in mein Buch und sage ihnen, wie wir das machen. Dann fange ich an zu formen und es erfüllt sich, was ich geschrieben habe.


Kann jede und jeder Tanz verstehen?

Das ist das Schöne am Tanzen: Wenn man einen Tanz sieht, kann man immer frei interpretieren. Ich muss nicht alles verstehen. Das wäre ja schlimm, wenn die Leute wissen wollen, was ich dabei gedacht habe. Das ist nur eine Möglichkeit. Es ist ein Geschenk, diesen Raum zu betreten. Leider müssen sie Geld dafür bezahlen, was ich nicht so gut finde. Kultur müsste für jeden umsonst sein. Es ist der Raum, wo wir mit Fantasie versuchen, uns selbst den Spiegel vorzuhalten. Tanz ist etwas Universelles. Ich kann zum Nordpol fahren oder nach Grönland und ich tanze den Leuten was vor. Sie lernen meine Identität vielleicht besser kennen, als wenn ich jetzt einen Mozart vorspiele, obwohl Mozart meine Inspirationsquelle ist dafür. Tanz öffnet. Wir brauchen Kunst und Kultur wie Brot und Wasser.

Das Interview führten Torben Ibs und Tobias Prüwer. Es entstand in Zusammenarbeit dem Leipziger Stadtmagazin Kreuzer

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