Frida Kahlo, der Tod und die Bedeutung von Farben
„Frida“ von Ricardo Fernando am Staatstheater Augsburg
Alfonso López González, Thomas Krähenbühl und Mateo Mirdita als New Comer in Augsburg
Diese Triple Bill ist ein Wurf! Da soll noch mal jemand behaupten, junge Tänzer*innen hätten nichts zu sagen. Zwar war – wie schon im Vorjahr – keine Nachwuchschoreografin mit am Start, aber dieser Uraufführungsabend wird gerade von immer wieder sehr eindrücklich auftretenden Tänzerinnen stark geprägt. In choreografisch eng zusammengeschweißten Gruppen übernehmen diese meist den führenden Part. Die Männer – gefühlsmäßig nicht weniger vielseitig unterwegs und ebenso voller Elan – werden im Spielfluss zum emotionalen Gegenpol oder dürfen in Trios und Duetten als Partner in die Vollen gehen. Das, worauf die Stücke inhaltlich abzielen, wird – obwohl es sich dreimal um Gedanken stets einzelner Akteure dreht – immer mit Teamdynamik auf den Punkt gebracht.
Choreografisch haben die Tänzer Alfonso López González (Spanien, Ensemblemitglied seit der Spielzeit 2023/24), Thomas Krähenbühl (Schweiz) und Mateo Mirdita (Albanien) rundum profireife Leistungen abgeliefert. Die beiden letztgenannten sind erst seit dieser Saison feste Mitglieder des Ballett Augsburg. González, der in dem Eröffnungsstück „Echoes of a Collapse“ eine acht Personen starke Masse hyperflexibler Körper wie ein autosuggestives zähflüssiges Etwas mit dazwischen solistischen Geistesblitzen über die Bühne wabern und sprudeln lässt, hatte bereits vergangene Spielzeit mit „Good Luck out There“ eine Gruppenkreation beigesteuert.
Keiner der drei Tanzschöpfer tritt in der Premiere selbst auf. Das mag weniger ein Zufall als eine interne Regel und zeitlich bedingte Notwendigkeit dieses Formats sein. Umso mehr ist es ihnen gelungen, ihre Kolleg*innen als unglaublich wandlungsfähige Protagonist*innen mit technisch oft frappierendem Schmiss und im Ausdruck teilweise heftigen darstellerischen Entladungen brillant ins Rampenlicht zu setzen. Dabei werden die gegebenen Raummöglichkeiten entweder mit Hilfe von unterschiedlichen Lichtstimmungen oder unter Verwendung mobiler Wände und Einrichtungsgegenstände dramaturgisch clever ausgenutzt. Die Spannung im Gefüge der Akteure wird dennoch vor allem körperlich aufgebaut – ab und an begleitet von markanten akustischen Reizen (ein Gewitterausbruch oder eine von Maria Callas gesungene Puccini-Arie).
Raffiniert geht der Nachwuchs mit mehr oder weniger klar definierten Haupt- und Nebenfiguren um sowie deren sporadischer Herauslösung respektive (Wieder-)Verschmelzung mit dem Rest der im Stück Mitwirkenden. Die Gruppe als solche behält dabei konstant eine wichtige Rolle – sei es als fluides Element eines Gedankenstroms in González’ „Echoes of a Collapse“, als ebenso abgründig-bürokratiegewaltige wie emotionale Herausforderung in „La Grande Marche“ von Krähenbühl oder als skurriler Familienclan in Mirditas surrealistischem „DaDa Fam“, wo zur großen Erheiterung der Zuschauer*innen die Irrationalität fröhliche Urstände feiert.
Alfonso López González: „Echoes of a Collapse“
Zu Beginn schickt Alfonso López González die Tänzerin Kako Kijima zu einem psychischen Ego-Horror-Trip ins Badezimmer. Schon deren Blick in den Spiegel über dem Waschbecken im Hintergrund verrät Niedergeschlagenheit gekoppelt mit innerem Aufruhr. Ihr Versuch, Ruhe zu finden, gleicht einer Schlingerfahrt durch Stürme und Flauten. Getuschel und Geflüster erfüllt den Raum. Das Dröhnen im eigenen Kopf inszeniert González tänzerisch vortrefflich. Als die Tänzerin zum Sound einer launigen Jazztrompete in die auf dem rot beleuchteten Tanzboden stehende Wanne steigen will, formieren sich sogleich ganz in blaue Trikots mit Badehauben gekleidete Wesen schier wasserstrahlartig zu einem gallertartigen Mehrfach-Gegenüber. Dieses schwappt bald mit in die Wanne und kippt diese später mitsamt der darin Badenden um. Die Interpretin, von der Gruppe umspült, wird mal zärtlich gerahmt oder mit krallenden Händen stumm angebrüllt, was das Chaos guter und schlechter Gedanken in Kopf sehr anschaulich in all seinen schnell wechselnden Schattierungen widerspiegelt.
Thomas Krähenbühl: „La Grande Marche“
Während sich González mit Reizüberflutung und dem Gewittern endloser Gedankenschleifen im eigenen Kopf auseinandersetzt, versucht Thomas Krähenbühl dem Verlust eines geliebten Menschen auf den Grund zu gehen. Sein Ansatz ist im Mix der Perspektivwechsel ungewöhnlich, das Krankenhausbett längst leer. Anstelle eines Verunglückten oder Sterbenden stapeln sich dort nun Koffer und Kartons. Normalität wird ausgehebelt, das Erbe zur Last, zum Objekt familiärer Zwistigkeiten. Wer hier wem auf welche Weise verloren gegangen ist, wird als Folge für die Hinterbliebene(n) zwar drastisch, aber alles andere als eindeutig oder stringent erzählt. Krähenbühl entfacht auf der Bühne stattdessen lokale emotionale Feuer. Brandverursacher sind immer Gründe von außen, welche die Trauernden plötzlich mit sich fortreißen, bedrängen oder zum Handeln zwingen. Szenen entwickeln sich wie aus dem Nichts und häufig parallel an verschiedenen Stellen. Sie greifen in- bzw. aufeinander über oder auch nicht.
„La Grande Marche“ ist gespickt mit Hinweisen auf Einsamkeit, Überforderung und kommt wie ein furioser Totentanz daher, bei dem die Lebenden temporär mit den Verstorbenen die Rollen getauscht zu haben scheinen. Nicht eine Person allein steht im Fokus, sondern der Schock, die Erschütterung, der Schmerz und die Wucht von Hilflosigkeit angesichts einer Flut von bei Trauer zu bewältigender Dinge.
Da gibt es Augenblicke vollkommener, fast apathischer Stille. Dann fährt zu Akkordeon- und Trompetenklängen, die an Filme von Emir Kusturica denken lassen, ruckartig Bewegung in die Glieder der Tänzer*innen. Familienmitglieder rotten sich um einen Tisch, Klamotten fliegen durch die Luft. Lucie Horná streift sich gleich mehrere Kleidungsstücke über, die man ihr kurz darauf wieder grob vom Leib reißt. Nackt bis auf den Slip wird sie auf den (jetzt) Beamtenschreibtisch geworfen. Über ihr – quasi als lebloses Anschauungsobjekt – rattert Fátima López Garcia Paragrafen herunter und eine Dokumentenliste zur Versicherungsabwicklung.
Lucie Horná und Àvaro Olmedo tanzen im Anschluss den in seiner Heftigkeit eindrücklichsten Pas de Deux des Abends. Olmedo nimmt die Leblose auf, schleudert und wuchtet sie hin und her. Das hat die Kraft einer Tragödie à la „Romeo und Julia“. Zum Ende des Duetts finden sich die beiden Partner allerdings in einer tröstlichen Umarmung wieder und geben sich gegenseitig Halt. Dass Krähenbühl in einem offenen Schluss alle acht Interpret*innen mit schreckgeweiteten Augen und Armen – hilfesuchend Richtung Publikum gereckt – auf das Krankenbett bannt, brennt sich förmlich in die Netzhaut ein.
Mateo Mirdita: „DaDa Fam“
„DaDa Fam“ von Mateo Mirdita bündelt schließlich laut Programmheft alle Leidenschaften, die den jungen Choreografen (der seit einem siebten Lebensjahr in Italien aufwuchs) umtreiben: Anime, Manga, Videospiele, Mode, Sophia Loren in „La Ciociara“ und Prokofjew. So bunt wie diese Aufzählung wirkt auch Mirditas Bewegungsvokabular.
Nicht mittig auf der Bühne, aber im Zentrum des Stücks steht ein Sofa. Penelope – umgeben von einer Art familiärer Entourage – sitzt darauf. Sie wartet auf Odysseus und vertreibt sich die Zeit mit Häkeln. Eine Julia hat ihren Romeo verloren. Der taucht irgendwann aus den Tiefen der Sofakissen wieder auf. In der Fensternische hinter dem Kanapee entlädt sich ein Gewitter zu ihrem Miteinander. Durchnässt und den Kopf voran verschwindet das Mädchen zwischen den Sitzpolstern des Sofas durch einen Spalt. Menschen purzeln durch eine Türe ins Geschehen und flugs aus diesem wieder hinaus. Es klopft, man telefoniert. Der Blumenstrauß einer jungen Braut wird zum dekorativen Bouquet auf einem Tisch, dem eine Frau entsteigt.
Aus dem Off wird dazu von der Callas „O mio babbino caro“ aus Puccinis „Gianni Schicchi“ gesungen. Alltagssituationen verwandeln sich in Träume. Und die Fantasie schickt das zehnköpfige Personenarsenal auf absurde Trips, die letztlich niemals weit weg aus dem irgendwie bizarren und dennoch heimeligen Wohnraum führen. Wäre das Timing beim Jonglieren mit der Verfremdung von alltäglichen Beobachtungen nicht so perfekt, käme womöglich Blödsinn heraus. Von „DaDa Fam“ wird das Publikum aber auf die charmanteste Weise um den Finger gewickelt.
Saisonhöhepunkt „New Comer“
Ballettchef Ricardo Fernando begann vor acht Jahren damit, seine Tänzer*innen eigene Stücke vorstellen zu lassen. Mittlerweile hat sich das zu einem veritablen Saisonhighlight verändert. Drei Werkvorschläge pro Spielzeit schaffen es auf die kleine Brechtbühne im alten Augsburger Gaswerkgelände. Für diese Halbstünder müssen die Ensemblemitglieder vorab schriftlich Konzepte bei ihrem Ballettchef einreichen, der sie im künstlerischen Prozess dann auch coached. Praxisnahe wie konstruktive Förderung zu erhalten, ist für junge Choreograf*innen – vergleichbar Tanzabsolvent*innen in Juniorkompanien – sehr wichtig.
Alle drei Kreationen des aktuelle Jahrgangs sind zugkräftig und sehr sinnlich. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Klangeindrücke von Barockmusik bis zu zeitgenössischer Elektronik und einer Variationsbreite an Bewegungen und Hebungen fügt sich schlüssig ineinander. Die Arbeiten stecken voller schwieriger Details und beinhalten dabei viel Humor und Momente menschlicher Selbstironie. Am meisten beeindruckt jedoch, dass jeder Choreograf einen Weg für sich gefunden hat, keineswegs harmlosen Inhalten tänzerisch individuell Form zu verleihen. Die Arbeiten sind hinreißend tiefgründig, gehaltvoll eigenwillig, anregend verstörend, fantasievoll aufwühlend, musikalisch klug zusammengestellt und handwerklich bestens durchstrukturiert, also in summa außergewöhnlich gut geglückt.
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