Selbstermächtigung und wilder Wald
Abschluss des Zürcher Theaterspektakels
Das Bühnenprogramm des diesjährigen Zürcher Theaterspektakel setzt Vorzeichen auf Vielseitigkeit
Konzept Tohuwabohu
Freiheit, Chaos, Gemeinschaft, so lautet das Credo der von Alice Ripoll vor zehn Jahren gegründeten Companie und Lebensgemeinschaft Suave. Es dauerte in Zürich jedoch sechzig lange Minuten, bis der letzte der schwebenden Großballone aufgeschlitzt war und sich der Inhalt mit Glitzerkonfetti über die schwitzenden Tänzer*innen ergoss.
Wild, fröhlich und von Trommeln und Gesang begleitet, ließ das Intro anfangs noch Erwartungen offen. Die acht Männer und Frauen, später waren es noch zwei mehr, sangen, tanzten, hüpften, machten Handstand und näherten sich einander aufreizend und herausfordernd. Was als übermütiger Klamauk begann, blieb es dann auch.
Ein Tohuwabohu von Einzeleinlagen, gekonnten akrobatischen Verrenkungen, im Rhythmus pulsierende und kreisende Pobacken, sie erinnerten auf der schönen Seebühne am Zürichsee bald an Animation in einem Beach Club. Mal ein flitzender nackter Mann, platzende Ballone und immer wieder getanzte Einschübe in einem Stilgemisch von Street, Break oder Urban Dance, Funk und Afro Dance – und das zu plötzlich einsetzender, ohrenbetäubender Musik aus den Verstärkeranlagen. Trotz oder gerade wegen der Ausgelassenheit machte sich Langeweile breit, vor allem aber, weil weder ein Konzept noch eine Regie führende Hand auszumachen und die Choreografien fantasielos waren.
Erster spärlicher Applaus des Publikums kam erst nach ca. einer halben Stunde. Die Darsteller*innen bzw. Schausteller*innen berührten zwar mit ihrer Hingabe und ihren individuellen Talenten, doch täuschte das nicht darüber hinweg, dass „Zona Franca“ irgendwie aus dem Ruder läuft, ohne Sinn und Zweck, ohne Anfang und Ende. Die Darbietungen wirkten zum Teil hilflos und die anzüglichen Bewegungen und Stellungen peinlich. Die Mitglieder schienen mit ihrer Freiheit zwar glücklich zu sein, doch waren sie den Blicken ausgeliefert, alleine gelassen und ohne würdevolle Dramaturgie. Ausgelassenheit macht noch keine Kunst. Das Spektakel-Publikum dankte zum Schluss den begeisterten Tanzenden mit einem ebensolchen Applaus, man mochte es ihnen gönnen.
Gekonnte Aufruhr
Von ganz anderem künstlerischem Kaliber zeigte sich dann am vierten Tag des Spektakels die Performance „Uproar“ von Simone Aughterlony & Michael Günzberger, eine schweizerische Koproduktion mit dem Berliner HAU-Theater. Das sogenannte immersive Raum- und Klangerlebnis führte das sich im Raum bewegende Publikum in andere Sphären, hinaus aus dem mittelbaren Erleben.
Fünf mit verschiedenen Materialien ausgekleidete Stellwände formierten sich zu Beginn zu einem Pentagon. Weiße, balancierende und farbauslösende Eier bahnten sich langsam ihren Weg. Dann öffneten sich die Wände wie von unsichtbarer Hand und die drei Performer schälten sich aus dem Publikum heraus. Die durchdringende Licht- und Soundcollage, die sich verändernden Räume, der animalische Tanz und Duftwolken regten im Laufe der folgenden neunzig Minuten unterschiedlichste Sinne an. Das in eingeschränkter Zahl zugelassene Publikum folgte gebannt dem fluiden Geschehen im Raum.
In der griechischen Mythologie verkörpert die Chimäre ein Wesen zwischen Mensch und Tier. Auf diese Art von Mischwesen, das gleichzeitig mehrere und eines ist, vorne Löwe, in der Mitte Ziege und hinten Drache, nimmt die Performance Bezug. Die Tänzer*innen – zwei Männer und eine Frau – bewegen sich in nächster Nähe zueinander und zum Publikum.
Einer gleicht mal Nemo in kurzem Jupe und flauschigem Oberteil, tanzt dann aber auch gerne mal unten ganz ohne. Die Körperkontakte unter den Drei werden immer heftiger und direkter, erotisch und mutig. Sehr selbstbewusst zeigen sie sich wüst und wild und trotzdem einnehmend. Bast Hippocrate, Pierre Piton und Adél Juhasz sind gut gewählte, individuelle Persönlichkeiten. Sie zelebrieren Nacktheit als solche, das Ver- und Entkleiden nimmt Raum ein. Als Requisiten dienen Tierfelle, Ledergurte, ein langes goldenes Seil und (vermutlich) Blätter der Aloe vera, deren schleimiger Saft wollüstig aufgesogen wird.
Simone Augtherlony selber ist mitten drin im Geschehen, sie hilft mit, die Wände zu verschieben und Kabel zu verlegen. Ein ausgeklügeltes Techniksystem umfängt die Szenerie und hält sie zusammen. Die Mischpulte nehmen die ganze Bühnenbreite ein. Trotz langem Stehen verlässt man den Raum, diese „Reise in eine parallele Dimension, den Trip in eine traumhafte Club-Welt“, beschwingt und gut gelaunt.
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