„The thing with feathers” von Demis Volpi. Tanz: Jack Bruce, Alessandro Frola

Gelungener Auftakt

Mit „The Times Are Racing“ beginnt die Ära Demis Volpi in Hamburg

Ein vierteiliger Ballettabend, eine Tour d’horizon durch 50 Jahre Ballettgeschichte – mit Spannung erwartet und begeistert gefeiert vom Hamburger Ballettpublikum.

Hamburg, 01/10/2024

Man hatte viel geraunt und gemunkelt im Vorfeld dieser neuen Saison beim Hamburg Ballett. Viele Fragen waren offen: Wie würde der neue Intendant vom kritischen Hamburger Publikum aufgenommen werden, das so viele Jahrzehnte lang auf John Neumeier fixiert war? Wie würde Demis Volpis erste Premiere aussehen, die ja doch die Weichen stellt für die Zukunft, für Erfolg oder Misserfolg? Und nicht zuletzt der finanzielle Aspekt: Würde das Ballett weiterhin die hohe Auslastung der Staatsoper garantieren können? 

Machen wir’s kurz: Diese erste Premiere in der Ära Demis Volpi hat alle Zweifel und alle Skepsis innerhalb von zweieinhalb Stunden in den Wind geschlagen – sie ist ein Erfolg auf ganzer Linie. Ermöglicht sie doch einen spannenden Blick auf 50 Jahre Ballettgeschichte, ausschnittsweise zumindest. Mit dem „Adagio“ von Pina Bausch aus 1974 am Anfang, über Hans van Manens 2012 kreierten „Variations for Two Couples“, Demis Volpis „The thing with feathers“ aus 2023 bis hin zu „The Times Are Racing“ von Justin Peck aus 2017, das dem Abend den Namen gab. Dabei ist das Entstehungsjahr allein noch nicht einmal ausschlaggebend für diese Tour d’horizon, sondern mehr der Stil der vier Choreograf*innen. 

Der ganze Abend zeigt, wie vielfältig sich das Ballett innerhalb dieser 50 Jahre entwickelt hat. Das Publikum kann erkennen, was es außer Neumeier noch so gibt an stilistischen Finessen im Tanz – ohne davon überfordert zu werden. Man muss sich nur offenen Herzens auf das Abenteuer dieser Reise einlassen. 
 

Ein Stück für die Ewigkeit 

Pina Bauschs „Adagio“ zu ebendieser Musik aus der 10. Sinfonie von Gustav Mahler entstand ganz zu Beginn des Wuppertaler Tanztheaters, zu einer Zeit, in der das Ensemble vor leeren Sälen spielte, nicht selten aus Protest über das auf der Bühne Gezeigte mit Tomaten beworfen wurde und das Publikum türenknallend davonlief. Pina war ihrer Zeit damals weit voraus. Der Erfolg kam erst sehr viel später. 

Gerade deshalb ist dieses „Adagio“ aus ihren Anfangsjahren so wichtig, es zeigt ihre choreografische Handschrift, ihre ebenso schlichte wie klare Bewegungssprache, ihre Expressivität. Eine, die damals von der ersten Stunde an dabei war, ist Jo Ann Endicott, mittlerweile 75 Jahre alt. „Mit Pina war es wie Liebe auf den ersten Blick“, sagt sie in einem Gespräch, das wir noch vor der Premiere führen konnten. „Das klingt kitschig, aber es war so. Diese Frau hatte so eine Aura, ich konnte nicht nein sagen, als sie mich 1973 fragte, ob ich nach Wuppertal kommen wollte. Ich sagte natürlich: OK! Dabei wusste ich gar nicht, wo Wuppertal lag, ich konnte kein Wort Deutsch, ich wusste nicht, wo ich wohnen sollte, es war kalt und grau und ich kannte niemanden. Aber damals erzählte mir Pina von ihrer Vision, was sie vorhat. Eigentlich hat sie mich mein ganzes Leben lang fasziniert. Diese Ruhe. Diese eindringlichen Blicke. Ihre natürliche Schönheit. Die Zusammenarbeit. Ich fühlte mich meistens wohl oder zuhause bei ihr. Sie konnte so viel aus uns herausholen.“ 

So wie Jo Ann Endicott zusammen mit Breanna O’Mara und Scott Jennings (beide früher im Wuppertaler Ensemble) jetzt aus dem Hamburger Ensemble so viel herausholte – es ist schon phänomenal, wie diese Tänzer*innen, die einen völlig anderen Stil gewohnt sind, sich auf diese neue Art zu tanzen einlassen konnten, vor allem die sechs Hauptpersonen des Stücks: Charlotte Kragh (in der Schule des Hamburger Balletts ausgebildet und von Demis Volpi aus Düsseldorf mitgebracht), Olivia Betteridge (mit 24 im gleichen Alter wie Jo Ann damals und gleichfalls aus Australien stammend!), Lormaigne Bockmühl bei den Frauen, Lennard Giesenberg, Artem Prokopchuk und Daniele Bonelli bei den Männern. 
 

Kein einfacher Weg

Diese Einstudierung war nicht ganz einfach. Es gab nur ein qualitativ schlechtes Schwarz-Weiß-Video, bei dem die Bühne nie in voller Breite zu sehen war. Wie Detektive hätten sie sich betätigt, sagt Jo Ann Endicott, vieles konnten sie entziffern, den Rest trug die eigene Erinnerung mit bei. Es geht um sechs Menschen und ihre wechselvollen Beziehungen im Rahmen der Gemeinschaft mit anderen. Die Bühne ist mit grauen Stoffbahnen komplett abgehängt, die Frauen tragen schlichte Kleider, die Männer konventionelle Anzüge. 

Jo Ann Endicott: „‘Adagio‘ ist pur. Wenn ich es heute sehe, berührt es mich zutiefst. Dieses alte Stück ist anders als die neueren von Pina. Später waren wir eleganter, trugen bunte, lange Kleider, wir trugen High Heels mit extrem hohen Absätzen. Aber eines hat sich über die Jahre hinweg nie verändert: der Mensch stand immer im Mittelpunkt.“ Und das ist es auch, was Pina Bausch mit John Neumeier teilt, was sie gemeinsam haben und was dem Hamburg Ballett in Fleisch und Blut übergegangen ist. 

Und doch war dieses Stück noch einmal eine besondere Herausforderung. Die Tänzer*innen mussten ihre bisher eingeübte Balletthaltung vergessen und sich ihrer profanen Normalität erinnern – 1974 war das ein radikaler Bruch mit dem Üblichen. Sie sollten nicht schreiten wie eine Ballerina, sondern so gehen, wie sie zuhause in die Küche gehen. Sie sollten nicht rennen wie ein Tänzer, sondern wie beim Spurt auf die S-Bahn. Sie sollten Menschen sein, ganz normale Menschen mit ihren individuellen Facetten. 

Dazu noch einmal Jo Ann Endicott: „Es gibt zwei überwältigende musikalische Momente in Mahlers Adagio, da hat Pina uns einfach dastehen lassen. Wir stehen und hören die Musik. Du darfst aber nicht nur herumstehen – dein Rücken spricht, deine ganze Körperhaltung strahlt etwas aus. Und dann gehst du los und läufst an eine andere Stelle. Du läufst aber nicht wie eine Tänzerin, du läufst richtig, wie du auf der Straße gehst.“ 

Das Stück sei heute „natürlich anders als damals“, sagt Jo Ann Endicott, „weil es andere Tänzer sind, andere Menschen. Sie müssen ihre eigenen Spuren hinterlassen, sie gehen in unseren alten Spuren, aber sie füllen sie neu aus. Ich suche die Spuren von uns in ihnen.“ Dass sie sie ganz offenbar gefunden hat, zeigte ihre glückliche und zufriedene Miene nach der Premiere. 

Und auch wenn das Publikum anfangs noch etwas fremdelte mit diesem Stück, so wird hat es jetzt doch seinen Platz im Repertoire des Hamburg Balletts. Welch ein Gewinn! 


Kontraste 

Danach dann Hans van Manen mit seinen „Variations for Two Couples“. Ein kleines Kräftemessen zwischen zwei Paaren in Ganzkörpertrikots in einem komplett reduzierten Bühnenbild von Keso Dekker zu vier verschiedenen kurzen Musikstücken von Benjamin Britten, Einojuhani Rautavaara, Stevan Kovacs Tickmayer und Astor Piazzolla: Wer von den beiden Paaren kann es besser, schöner, exakter? Das ist Neoklassik pur und vom Feinsten – wie geschaffen für die Ersten Solist*innen des Hamburg Balletts. Den Zweikampf aus Selbstbewusstsein, Eleganz und Erotik entschieden Madoka Sugai und Sasha Trusch gegen Ida Praetorius und Matias Oberlin eindeutig für sich, dafür gab es sogar Zwischenapplaus. 

Teil 3 des Abends bestritt der neue Ballett-Intendant mit einem eigenen Stück: „The thing with feathers“ nach einem Gedicht von Emily Dickinson. Das „Ding mit Federn“ ist ein Vogel, der für die Hoffnung steht. Volpi verkneift es sich erfreulicherweise, hier im Bild zu bleiben. Die Hoffnung muss man sich allerdings erst einmal suchen in diesem sperrigen, choreografisch nicht wirklich schlüssigen Stück für sieben Frauen und sechs Männer in nicht gerade kleidsamem Alltagsdress (Kostüme: Thomas Lempertz). Es beginnt eher düster, in der Bewegungssprache eher monoton und bleibt das auch – wobei die Musik ein Übriges tut: die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ von Richard Strauss, komponiert unter dem Eindruck der unter Bombenhagel zerstörten deutschen Städte nach dem 2. Weltkrieg. Es ist eine zutiefst traurige Musik, komplex ineinander verwoben und wie bereits die beiden vorausgehenden Stücke vom Philharmonischen Staatsorchester unter Vitali Alekseenok wunderbar sensibel intoniert. 

Die Tänzer*innen spiegeln diese Musik nicht einfach wider, sondern bewegen sich eher darüber hinweg, immer wieder finden sie sich in kurzen Umarmungen zusammen, um dann auseinanderzustieben, einsam bleibend in der flüchtigen Gemeinsamkeit. Jack Bruce, erst 21 Jahre alt, ausgebildet an der Royal Ballet School in London und von Volpi als Gruppentänzer aus Düsseldorf mitgebracht, steht hier mit seiner schmalen Gestalt im Mittelpunkt für dieses Gefühl, während ihm Alessandro Frola, enorm ausdrucksstarker Erster Solist im Hamburg Ballett, dann doch noch Flügel verleiht. Die Hoffnung, die Volpi mit diesem Stück verbindet, symbolisiert vor allem er – sprunggewaltig, elegant und zukunftsweisend sich über alle Schwermut hinwegsetzend. 
 

Ein berauschender Schlussakkord

Der eigentliche Höhepunkt des Abends ist aber der Schluss, der dem Abend den Namen gab: „The Times Are Racing“ von Justin Peck, Hauschoreograf des New York City Ballet. Dem „Thing with feathers“ stellt er ein „Thing with a bang“ gegenüber – eine schwungvolle, geradezu berauschende Feier des demokratischen Rechts, zusammenzukommen, auf die Gemeinschaft. Entstanden ist das Stück auch als Reaktion auf die Wahl von Donald Trump 2016 – und es wirkt gerade in seiner überquellenden Lebensfreude wie ein Labsal, ein bunter, farbenfroher Hoffnungsstrahl in einer ungewissen Gegenwart und Zukunft. Demis Volpi hätte kaum etwas Passenderes als Abschluss dieses vielfältigen Abends aussuchen können. 

Und die Hamburger Kompanie gibt hier dem Affen richtig Zucker: Wie sie in Sneakers über die Bühne wirbelt, in einem unglaublichen Tempo, noch dazu von bestechender Präzision, wie sie sich reinwirft in die wummernden Rhythmen (die Musik kommt hier vom Band: „USA I-IV“ aus dem Album „America“ von Dan Deacon), das ist einfach nur großartig. Wenn der hochgewachsene Caspar Sasse mit dem kleineren Louis Musin einen hochdynamischen, flotten Stepptanz auf die Bretter legt, wenn die aus Düsseldorf als Solistin nach Hamburg zurückgekommene Futaba Ishizaki mit Matias Oberlin einen rasanten Pas de Deux auf die Bühne zaubert, dann hält es einen kaum noch auf den Sitzen, so mitreißend sprüht da die Tanzfreude. 

Kein Wunder, dass das Publikum diesen Abend mit minutenlangen Standing Ovations für alle Beteiligten feierte. Ein gelungener, vielsprechender Auftakt für diese Spielzeit unter der neuen Leitung. 

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