John Cranko
John Cranko

Hommage an ein Genie

Ein Podcast und ein Roman für einen der bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts: John Cranko

Auf 370 Seiten und in 27 Hörfolgen hat Thomas Aders dem Vater des Stuttgarter Ballettwunders ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Hamburg, 14/06/2020

Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist grandios. Und der Podcast ist es nicht minder. Spannend wie ein Krimi. Bewegend wie ein Roman. Ergreifend wie ein Gedicht. Hat man einmal angefangen, kommt man kaum noch los von diesen Geschichten über John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder. Ich jedenfalls wurde geradezu süchtig danach. Nicht nur, weil ich in Stuttgart in den 1950er und -60er Jahren aufgewachsen bin, just in der Zeit, als Cranko dort das Ballett zu neuem Leben erweckte und ich diese Entwicklung hautnah miterleben durfte. Nicht nur, weil mir deshalb die Szenerie so vertraut war, die Namen, die großen Erfolge: „Schwanensee“, „Romeo und Julia“, „Onegin“, „Jeu de Cartes“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Konzert für Flöte und Harfe“, „Opus 1“, „Spuren“, „Initialen R.B.M.E.“, „Poème de l’Extase“. Dieser Roman, dieser Podcast ist so bewegend, weil er so präzise und einfühlsam recherchiert, so packend geschrieben und gesprochen ist, wie man es gerade in der Ballettliteratur in dieser Professionalität selten zu lesen bzw. zu hören bekommt.

Natürlich stellt sich da sofort die Frage: Was treibt den Autor Thomas Aders, Philosoph, Politologe und langjähriger Auslands-Korrespondent der ARD, ausgerechnet über das Ballett zu schreiben? Wie kommt er dazu, 15 Jahre lang (!) akribisch zu recherchieren, um einen Roman zu verfassen über diesen Tausendsassa unter den Choreografen, für den es immer nur Extreme gab, alles oder nichts. Der nicht nur an zwei Enden brannte, sondern überall. Und das lichterloh. Der jemanden vernichten konnte, aber auch – häufiger – in den Himmel erheben. Der seinem Gegenüber mit untrüglicher Intuition und seinem durch nichts zu trübenden Blick direkt in die Seele schauen und das in ihr schlummernde Potential erfassen konnte. John Cranko also – viel geliebt, viel geschmäht, vor allem aber viel zu früh gestorben, am 26. Juni 1973, auf dem Zenit seines Schaffens und seiner Erfolge.

Die Antwort liegt 30 Jahre zurück. Thomas Aders sah damals als 29-Jähriger während eines Studienaufenthalts in Berlin zum ersten Mal ein Ballett. Es war Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“. Was er sah, traf ihn bis ins Mark: „Ich habe mich gefragt: Wie kann man diese Weltliteratur auf die Bühne bringen, ohne dass ein Wort gesprochen wird? Wie kann man das so eingängig, aber auch so überwältigend darstellen?“ Seither hat sich der Name John Cranko in sein Gehirn eingebrannt und ihn nicht mehr losgelassen.

Als er dann ein Jahr später beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart ein Volontariat absolvierte und der Ressortleiter Kultur ihn fragte, welches Thema er bearbeiten wolle, zögerte er nicht lange mit der Antwort: John Cranko. Seine Chuzpe stieß auf erstaunte Fassungslosigkeit. Cranko und das Stuttgarter Ballett – das war Hochkultur, das war heilig, nur den Besten unter den Journalisten vorbehalten, ganz sicher nichts für einen grünschnabeligen Volontär. Aber Thomas Aders ließ nicht locker und erhielt schließlich die Erlaubnis für ein halbstündiges Feature. Er kniete sich in die Recherche, suchte historische O-Töne heraus, führte Interviews, schaute sich Ballette an und sprach mit allen Zeitzeug*innen Crankos, derer er habhaft werden konnte. Im November 1991 wurde sein Beitrag gesendet. Es war ein Erfolg auf der ganzen Linie.

In den Jahren danach hatte Thomas Aders allerdings wenig mit Tanz und Ballett zu tun. Er arbeitete in der Auslandsredaktion des SDR, gemeinsam mit Jörg Armbruster berichtete er aus dem Nahen Osten. Zwischen 2002 und 2004 war er zwölf Monate nur in Bagdad, wo ab März 2003 der Irak-Krieg tobte. Sein bekanntester Beitrag für das Fernsehen wurde die „Chronik eines angekündigten Krieges“. Aber das Geschehen im Irak wurde, wie er sagt, „immer schlimmer, immer blutiger, immer unmenschlicher“. Und unerträglicher: „Als ich von einem Hotelbalkon mit ansehen musste, wie Menschen parallel zu einer Hochzeit auf offener Straße umgebracht wurden, wusste ich: Ich muss hier weg. Ich komme aus der Welt der Wissenschaft, der Kultur und Kunst – hier war ich mitten im Krieg. Und ich wollte kein Kriegsreporter sein.“ Er zog die Reißleine und kehrte nach Deutschland zurück.

Nach derart aufwühlenden Jahren stellt sich zwangsläufig die Frage: Was jetzt? Wo ist die Aufgabe, die besser ist und sinnvoller, wahrer und zeitloser, wichtiger und erfüllender als das Berichten über Krieg und Macht, über sinnloses Zerstören und Leiden? Thomas Aders hatte schnell die Antwort gefunden: Er wollte – neben seiner Tätigkeit als Auslandskorrespondent, die ihn später u. a. nach Brasilien führte – einen Roman schreiben. Über John Cranko. Noch mehr nachspüren und herausfinden, was den gebürtigen Südafrikaner und seine Kunst ausmachte. Was ihn antrieb. Womit er kämpfte. Wofür er litt. Er wollte dem Menschenfänger John Cranko nahekommen, seinem Wesen. Ihm ganz unter die Haut schlüpfen. Sein Genie erfassen. Und so begann er 2004, dreizehn Jahre nach seinem Radio-Feature, sich ein zweites Mal, und dieses Mal noch viel intensiver, mit John Cranko zu beschäftigen. Es wurde eine 15-jährige Reise zu den Quellen dessen, was den Tanz heute ausmacht.

Denn Cranko war es, der das Ballett Anfang der 1960er Jahre zu neuem Leben erweckte. Ihm Seele einhauchte und es zur respektierten, eigenständigen dritten Sparte am Theater machte, nachdem es jahrzehntelang eher wenig geschätztes Beiwerk für Oper und Operette war. Tänzer*innen galten damals – mit wenigen Ausnahmen an den ganz großen Bühnen der Welt in Paris, Moskau, St. Petersburg, New York und London – als „Hupfdohlen“, verächtlich belächelt und nicht wirklich ernstgenommen. Cranko jedoch hatte schon früh erkannt, welches künstlerische Potential im Tanz steckt, wenn er Gefühle in Körpersprache und Bewegung umsetzen darf, wenn er mit dem Tanz Geschichten erzählt. Zeitlose Geschichten. Vom Leben. Von der Liebe. Vom Sein. Geschichten, in denen Menschen sich und ihre Lebensthemen wiedererkennen. Die sie bis ins Innerste bewegen. Das Ballett bekam so durch Cranko eine ganz neue, eigene Bedeutung.

Die Voraussetzung dafür war seine Unerbittlichkeit, seine Unbarmherzigkeit mit sich selbst und anderen, im Glauben an das, was ihm vorschwebte. Er wusste genau, was er wollte und welche bislang ungehobenen Schätze in seinen Tänzer*innen steckten. Er forderte von ihnen nichts Geringeres als absolute Hingabe. Sie mussten ihre Rollen mit allen Fasern empfinden, sie mussten sie leben, nicht spielen. Sie mussten darin aufgehen, ganz und gar, mit dem erfüllen, was sie selbst in sich fanden und freisetzen konnten. Dann, und nur dann, war er zufrieden. Dann traf er die Zuschauenden mitten ins Herz. Niemand blieb davon unberührt. Das Stuttgarter Ballettwunder konnte nur ein solches werden, weil Cranko die Seele seiner Tänzer*innen erkannte und sie ermutigte, sich mit eben dieser Seele voll und ganz dem Tanz zu ergeben. Und weil er für Bühnenbild, Kostüme, Licht und Musik kongeniale Künstler*innen fand, die seinen Absolutheitsanspruch teilten.

Was ihn dabei leitete, war die Liebe. Die Liebe zum Leben, zur Kunst, zu seinen Tänzer*innen. Nie ging es ihm um Macht, nie um Beherrschen. Es ging ihm immer nur um die Liebe als das Größte und Höchste, was es zu erreichen galt. Alle, die unter seiner Ägide arbeiteten, haben das mitgenommen in ihr Leben, in ihre Arbeit. Mit dieser Haltung prägen sie den Tanz bis heute.

Cranko legte die Basis dafür, dass aus der Wiege des Stuttgarter Balletts unter seiner Führung und später unter Marcia Haydée und Reid Anderson die meisten namhaften Choreograf*innen hervorgingen, die der zeitgenössische Tanz kennt: John Neumeier, Jiri Kylian, William Forsythe, Uwe Scholz, Renato Zanella, Christian Spuck, Bridget Breiner, um nur einige zu nennen. Es war John Cranko, der sie gefördert und geformt hat – auch noch posthum. Sie konnten wachsen und gedeihen auf dem Humus, den er mit seiner Arbeit bereitet hat. Wer heute die Ballettsäle der Württembergischen Staatstheater besucht, kann diesen Geist immer noch spüren. Es ist, als sei Cranko irgendwo immer noch da, als käme er gleich um die Ecke, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern, mit zerzausten Haaren, unsortiert, zerstreut, rastlos, ungeduldig, und doch ganz bei sich, sprühend vor Kreativität.

Thomas Aders ist es gelungen, all das einzufangen. Mit der seltenen Gabe, sich ganz und gar in diesen schillernden, sprunghaften, abgründigen Charakter einzufühlen. Es scheint, als habe Cranko ihm die Feder geführt. So, wie er es beschreibt, muss es gewesen sein.

Dass das so gelingen konnte, kommt nicht von ungefähr. Um wahrhaftig bleiben zu können, ging Aders den einzig möglichen Weg: 1. Er besuchte, wann immer er konnte, die Vorstellungen des Stuttgarter Balletts. Denn das Einmalige dieser Kompanie, dieser Stuttgarter Spirit, offenbart sich am besten auf der Bühne. 2. Er sprach mit so vielen Weggefährt*innen Crankos wie nur irgend möglich. Und er bekam sie innerhalb dieser 15 Jahre alle vor sein Mikrophon (in alphabetischer Reihenfolge): Reid Anderson, früherer Solist, Freund Crankos und Nachfolger Marcia Haydées in der Intendanz des Stuttgarter Balletts; Ray Barra, einer von Crankos wichtigsten Solotänzern und Weggefährte der ersten Jahre; Heinz Clauss, nach Ray Barra Crankos wichtigster „Onegin“; Richard Cragun, sprunggewaltiger Solist und langjähriger Gefährte von Marcia Haydée; Gudrun Friedrich, Buffetdame in der Theaterkantine, Crankos zweitem Zuhause; Dieter Gräfe, Partner von Reid Anderson und Crankos Erbe; Susanne Hanke, Tänzerin; Marcia Haydée, legendäre Primaballerina und Nachfolgerin Crankos als Ballettdirektorin; Fritz Höver, Gründer der Noverre-Gesellschaft; Birgit Keil, Crankos „Babyballerina“, später Direktorin des Staatsballetts Karlsruhe und Gründerin der Tanzstiftung Birgit Keil; Vladimir Klos, langjähriger Stuttgarter Solotänzer und Lebenspartner von Birgit Keil; Egon Madsen, begnadeter Joker in Crankos „Jeu des Cartes“ und grandioser Charaktertänzer bis heute; Dimitrios Tsiakmakis, Musiker im „Pireus“, Crankos Stammkneipe in der Hasenbergstraße; John Neumeier, ehemals Tänzer im Stuttgarter Ballett und seit nunmehr 47 Jahren Chefchoreograf und Ballett-Intendant in Hamburg; Jürgen Rose, einzigartiger Großmeister aller Kostüm- und Bühnenbildner; Kurt Speker, Tänzer und Charakterdarsteller; Georgette Tsinguirides, Tänzerin und durch Crankos Initiative Deutschlands erste Choreologin; Rainer Woihsyk, früherer Pressesprecher des Stuttgarter Balletts und Lebenspartner von Fritz Höver; und viele, viele weitere … All die Informationen aus den Gesprächen verwob Aders mit dem, was ihm seine Intuition diktierte, was er fühlte beim Eintauchen in den Kosmos John Cranko.

Natürlich ist dieser Roman zu einem Gutteil Fiktion und Imagination. Die Dialoge, die Thomas Aders Cranko in den Mund legt, hat er nicht selbst gehört und nur bedingt über die Interviews rekonstruieren können. Und dennoch begleiten wir im Lesen und Hören John Cranko auf dem kurvenreichen Weg durch sein kurzes Leben. Hautnah, aber nie voyeuristisch. Die Liebe, die Cranko zu seiner Arbeit hatte, spiegelt Thomas Aders in der Art und Weise, wie er darüber schreibt und spricht. Genauso leidenschaftlich und mit bedingungsloser Hingabe: „Ich musste dieses Buch schreiben. Es gab keine Alternative. Ich fühlte mich darin Cranko verpflichtet. Ich habe das Manuskript allen meinen Gesprächspartnern gezeigt, soweit sie noch leben. Und alle sagten: So war es. Offenbar liege ich dann wohl doch nicht völlig daneben. Dieses Buch und dieser Podcast sind ein bisschen mein Lebenswerk geworden.“ Es ist extrem gut gelungen, dieses Lebenswerk. Es ist extrem wertvoll. Wer immer wissen möchte, warum der Tanz heute ist, was er ist, lese dieses Buch und höre diesen Podcast.

Thomas Aders: SeelenTanz. John Cranko und das Wunder des Balletts. Book on Demand, 25 Euro.
Erhältlich unter www.seelentanz-cranko.com

Der Podcast ist kostenfrei zu hören unter https://seelentanz-john-cranko.podigee.io

Am 19. Juli 2020 um 11 Uhr wird es im Stuttgarter Theaterhaus eine Kick-Off-Matinée für das Buch geben, in Anwesenheit von Marcia Haydée, Birgit Keil und anderen Weggefährt*innen John Crankos.

Für die Genehmigung, die Fotos von Madeleine Winkler-Betzendahl verwenden zu dürfen, bedanken wir uns bei Dr. Jürgen Flad, Stuttgart.

 

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