Der Tänzer, Choreograf und Performer Fabian Chyle

„Das Deuten atomarer Strukturen liegt mir nicht“

Stuttgart, 22/08/2001

In seiner Tanzperformance „Crossings 1“ in den Katakomben der Musik der Jahrhunderte hat er irgendwie wild gewirkt, besessen und als ob er aus allen Fugen geraten sei, wie auch das ganze Stück ein Sammelsurium nicht zueinander passender Teile hätte sein können. Aber nun sitzt Fabian Chyle heiter, gelöst und freundlich dreinblickend im Ausstellungssaal der Kunststiftung Baden-Württemberg, nimmt ab und zu einen Schluck Sprudel gegen die Hitze und erklärt: „Mir geht es vor allem um den menschlichen Körper zwischen Trauma und Traum. Ich glaube, dass wir von Geburt an traumatisiert sind.“ Und: „Ich werde ausschließlich durch Menschen inspiriert. Das Deuten atomarer Strukturen liegt mir nicht.“ Chyle wurde in Stuttgart geboren und hat als Tänzer und Choreograf ein recht bewegtes Leben mit Studien und Produktionen in erster Linie in den USA und den Niederlanden hinter und, wie er stark hofft, vor sich. Möglicherweise haben ja die Besucher von „Crossings 1“ im Juli sogar die Keimzelle eines Großteils seiner künftigen Arbeit gesehen. Denn die „1“ im Titel hat er mit Bedacht gewählt. Chyle schwebt vor, dieses Stück gewissermaßen die Basis vieler weiterer werden zu lassen, es zu dehnen und zu verengen, je nach Aufführungsort, die Besetzungen, Dekorationen und sogar die Musik zu wechseln, um ihm so immer neue Gesichter zu geben.

Interpretieren möchte er seine Werke eigentlich nicht, weil sie gleichsam nur jenes Rohmaterial seien, aus dem die Zuschauer in ihren Köpfen assoziativ ihr eigenes Endprodukt zusammensetzen sollen. Und für diese Absicht erscheinen ihm Performances am besten geeignet. Chyle lehnt denn auch entschieden die Meinung ab, für Tänzer jeder Fraktion, und seien sie selbst die allermodernsten, sei eine klassische Grundausbildung unverzichtbar. „Für mich ist allein wichtig“, betont er, „dass ich die Körpersprache verstehe, die meine Tänzer sprechen. Denn sonst kann ich mit ihnen nicht korrespondieren. Wenn sie auch noch klassisch ausgebildet sind - umso besser. Das erweitert ihre und meine künstlerischen Möglichkeiten.“ Fabian Chyle möchte weder Ballettdirektor werden, noch eine eigene, freie Truppe gründen. Aber er mag es, wenn er oft mit Künstlern arbeiten kann, die er gut kennt und die ihn gut kennen. Und so werden bei seinem nächsten Projekt, das am 14. Oktober in der „Rampe“ uraufgeführt und „P3“ heißen wird, wieder die Performer Bernhard Eusterschulte und Nicola Lutz mit von der Partie sein. Es soll mehrere Stunden dauern und in ein noch größeres Event münden, das im Sommer kommenden Jahres an zahlreichen Orten in Stuttgart und der Region stattfinden und einige Tage lang währen wird.

Dass Chyle für „Crossings 1“ ein Projektstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg erhalten hat, freut ihn erstens sowieso, aber zweitens vor allem, weil er damit in eine Art von Künstlerkreislauf geraten sei, den er unerhört fruchtbar finde. „Man lernt viele Menschen mit gleichen Interessen kennen“, sagt er, „lernt durch sie weitere kennen und gewinnt damit Verbindungen, die man anders nie erreicht hätte.“ Im vergangenen Jahr hat er zum Beispiel ein Stipendium des Siemens-Kulturprogramms erhalten, für das er in Nürnberg eine Performance über die moderne Arbeitswelt geschaffen hat. Dabei arbeitete er erstmals mit den Neuen Vokalsolisten der Musik der Jahrhunderte zusammen, mit denen gemeinsam er jetzt sein „Crossings 1“ aufführte. So greift eines ins andere.

Kann man davon leben? Fabian Chyle bejaht das insoweit, als dass die Performances schließlich nur ein Teil seiner Künstlerpersönlichkeit sind. Seit zwei Jahren ist er nämlich anderthalb Tage pro Woche in der Strafvollzugsanstalt Hohenasperg als Tanztherapeut für Gewaltverbrecher tätig. Das sei eine für die mögliche Resozialisierung dieser Menschen ungemein wichtige und sehr wirksame Arbeit, von der er auch selbst in hohem Maße profitiere. Außerdem ist er Mitbegründer des Kreativtherapeutischen Zentrums für Kinder in Ludwigsburg, das im Herbst seine Tätigkeit aufnehmen wird. Tanztherapie hat Chyle vier Jahre lang an der Rotterdamse Dansacademie studiert. Zweifellos ein interessanter Mann. Und wie er so zuversichtlich lächelt und sich unübersehbar sozusagen innerlich die Hände reibt, wird man in Stuttgart noch allerhand Aufregendes von ihm zu erleben bekommen.

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