Nijinksy im Wohnwagen gewinnt
Der Stuttgarter Theaterpreis 2010
„Re-inventing Nijinsky“. Fabian Chyle zeichnet ein Psychogramm
Zu Lebzeiten bewundert wie kein Zweiter, mehrfach als Genie und Gott des Tanzes bezeichnet, versetzt der Star der Ballets Russes, Vaslav Nijinsky (1889-1950) sein Publikum weltweit in Staunen. Betörend wie verstörend sind seine Choreografien. Die erotisch aufgeladene Interpretation des Mallarmé-Gedichts „L'Après-midi d'un faune“ zur impressionistischen Musik Debussys erregt bereits 1912 die Tanzwelt. Erst recht ein Jahr später „Le Sacre du Printemps“. Nichts von spätromantischer Schwärmerei, schwingender Melodik oder harmonischer Verfeinerung – den Substraten bürgerlicher Ballettkunst. Strawinskys Musik donnert mit der Wucht von Maschinen durch den archaischen Stoff und Nijinsky, gerade mal 23 Jahre alt, inszeniert den heidnisch blutigen Ritualmord. Der „Sacre“ revoltiere gegen alles, wofür das klerikale Russland stehe, vermerkte Strawinsky später. Der Zusammenbruch der alten Ordnung lag am Vorabend des Ersten Weltkriegs in der Luft und dem Pariser Premierenpublikum dämmerte, wie dünn der zivilisatorische Firnis ist. „Ich hatte Angst vor den Leuten und schloss mich in meinem Zimmer ein“ schreibt Nijinsky nach einem improvisierten Soloabend 1919 in sein Tagebuch und fährt fort: „Ich starrte mit Vorliebe die Wände und die Decke an, denn sie sprachen mir vom Tod. Ich wusste nicht, wie ich mich aufheitern sollte und ging zu einer Kokotte.“ Zitate der geheimen Aufzeichnungen, die das Ende der Tänzerkarriere markieren, sind Leitfaden des Stückes „Re-inventing Nijinsky“.
Koproduziert von der Ludwigsburger Tanz- und Theaterwerkstatt, beeindruckt das „Hörspiel in Bewegung“ in der Karlskaserne nicht zuletzt durch wunderbar abgemischte Klänge, irgendwo zwischen Fantasiekomödie und Stummfilmbegleitung. Komponiert von Mark Lorenz Kysela durchzieht die Tonspur aus „Sacre“- und „L'Après-midi d'un faune“-Fragmenten sowie nahezu perfekter Sprache (Stimme: Marten Güppertz) in Französisch, Deutsch und Niederländisch, ein schweinisches Grunzen. Fabelhaft die Bühne von Adrian Silvestri und Chyle, deren Zentrum ein Wohnwagen ist, irgendwo in den Schweizer Bergen. Symbol der Enge, des Rückzugs und der Ortlosigkeit, ein Fixpunkt für den Rastlosen, flackert hin und wieder das Innenleben (gefährlich) rot auf. Oder Aktionen werden per Video (Ko-Performer und Videos: Alexander Schmidt) auf die Außenseite projiziert. Da mampft der bekennende Vegetarier Nijinsky (mit russischer Fellkappe) eine Gurke, kippt mit seinem Kumpel ein paar Schnäpse. Schonungslos im Umgang mit sich selbst treiben Fragen nach Gott und Tod den Tänzer ebenso um wie Verdauungsprobleme. Viele der – vor 90 Jahren verfassten – Kommentare zu Themen wie Finanzwelt, Aufrüstung, Krieg, Klimaschutz oder Ernährung wirken erschreckend aktuell. Andere Texte klingen ernüchternd banal oder aber wie ein dadaistisches Gedicht, in dem sich der Russe mit der französischen Sprache herumschlägt und dabei Hintersinn produziert. Ist dieser kritisch reflektierende Geist wirklich dem Wahnsinn verfallen? Spitzt Nijinsky Gemüts- und Gesellschaftszustände zu bis zur Kenntlichkeit?
Chyles Performance kratzt weniger am zivilisatorischen Firnis als am Mythos des vom klassischen Tanz vereinnahmten Tänzers. Hinter dem angehimmelten Virtuosen – von dem man sagte, dass er auf dem Höhepunkt des Sprunges kurz wie ein Ballon verharren konnte – erscheint das Psychogramm eines Mannes, der down and out, umnebelt und umnachtet, eher notgeil als schwul, sich in Selbstzweifeln windet. Scheut er das Licht oder sucht er es? Fallend, robbend und zuckend wird er von einer herabstürzenden Lampe (beim Onanieren) kalt erwischt, richtet sich auf und findet sich unter der eisigen Lichtdusche in einer klassischen Fünften wieder (Licht: Doris Schopf). Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Nicht die einzige Reminiszenz an den akademischen Tanz, begibt sich der Darsteller Chyle für einen kurzen Ballett-Crashkurs zwischen die Zuschauer. Chyle mag das Publikum und vice versa. Anders Nijinsky, der sagt: „Ich will nicht in St. Moritz tanzen, denn die Leute mögen mich nicht“. Er wolle nicht tanzen, was man von ihm erwarte, sondern was er fühle, schreibt er, ganz Kind des aufkommenden Expressionismus. Statt nach apollinischen Höhenflügen war ihm nach dionysischem Ausrasten, sich in Depressionen suhlen, die Sau raus lassen, den inneren Schweinehund töten, lange bevor die Wiener Aktionskünstler ihre Schlachtplatten angerichtet haben. „Diese Lustbarkeit reicht mir für den Rest meines Lebens“, folgert der Tänzer aus der Veranstaltung in St. Moritz. „Lustbarkeit ist der Tod der Vernunft. Ich fürchte den Tod und darum liebe ich das Leben.“ Also spricht ein Unsterblicher.
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