Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
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Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert gab es, außer der Berliner „Raymonda“-Einstudierung von Nurejew, die dort am 4. Juli 1994 an der Staatsoper Premiere hatte, die letzte komplette Einstudierung von „Raymonda“ eines deutschen Opernballetts an der Deutschen Oper Berlin – die beiden ersten Akte von Tatjana Gsovsky, der Schlussakt von Nicholas Beriozoff. Eine Gedenkminute für die beiden so verdienstvollen Ballettchefs! In München, beim Bayerischen Staatsballetts, komplettiert „Raymonda“ jetzt die Serie der Petipa-Klassiker – nach „Giselle“, „Schwanensee“, „Dornröschen“, „Nussknacker“, „Don Quixote“ und „La Bayadère“ – fehlt nur noch „Le Corsaire“ (und womöglich „Paquita“). Für eine derartige Kontinuität unser Kompliment an Konstanze Vernon und Ivan Liška!
Wie schon beim Münchner „Schwanensee“ und „Don Quixote“ heißt der Choreograf Ray Barra – genau: „Ballett von Marius Petipa, Neufassung von Ray Barra – Choreografie: Ray Barra nach Marius Petipa“ (für Bühne und Kostüme zeichnet Klaus Hellenstein verantwortlich, für das Licht Christian Kass, für die musikalische Einrichtung Maria Babanina – Alexander Titov vom St. Petersburger Marientheater dirigiert das Bayerische Staatsorchester). Eine Zuweisung der Inszenierung gibt es nicht, auch keine Zuweisung der Dramaturgie. Beider Abwesenheit registrierte man nicht ohne Betroffenheit.
Die „Neufassung“ besteht hauptsächlich darin, dass Raymondas Widerstreit der Gefühle zwischen der Pflicht ihres Verlöbnisses mit dem Kreuzritter Jean de Brienne und ihrer erotischen Faszination durch den Sarazenenkalifen Abderachman stärker als üblich herausgearbeitet ist – für Jean steht der ihr von ihm überreichte weiße Brautschleier, für Abderachman ein ihr von ihm verehrter silberner Ast, der wie eine Distel aussieht, in Wirklichkeit aber ein Jasminzweig sein soll. Außer den Dreien gibt es noch die Weiße Dame, die als eine Art gute Fee fungiert und dafür sorgt, dass Abderachman in die Schranken gewiesen und von Jean im Duell getötet wird, damit Jean und Raymonda zum Schluss das große Hochzeitsfest mit dem berühmten Grand pas hongrois feiern können.
Das ist im Grunde ein Minikonflikt, der mittels viel Personal auf eigentlich drei, in München auf zwei Akte bei einer Vorstellungsdauer von zweieinhalb Stunden gestreckt wird – im Grunde ein abendfüllendes Divertissement. Barra hat das, wie ausgewiesen „nach Petipa“ choreografiert und wie ein geklonter Petipa sieht das Ganze denn auch aus, bar jeder dramatisch-theatralischen Wirkungskraft. Sehr hübsch – auch in Hellensteins weiten, lichten Räumen und farblich überwiegend sehr aparten Kostümen (nur Jean hat er ein sehr unvorteilhaftes Oberteil verpasst). Sehr ansprechend auch die musikalische Qualität der Vorstellung – wenn man denn Glasunow überhaupt mag (und ich bekenne gerne, zu den Glasunow-Fans zu gehören – mir imponiert vor allem die Delikatesse seiner Instrumentation). Und sehr gut getanzt! Von den drei besten deutschen Opernballettkompanien ist München sicher diejenige, die das feinste stilistische Sensorium für die spezifische Schule von St. Petersburg entwickelt hat (Stuttgart und Hamburg haben andere Qualitäten). Da beginnt sich auszuzahlen, dass München so oft Russen von der Newa bei sich zu Gast hat. So fließend, so eingebunden in den Strom der Musik, mit so weichen Armen und einer so preziösen Beinarbeit wird sonst nirgends bei uns getanzt.
Das verleiht den Gruppen eine wundersame Homogenität – auch wenn die Männer ihre Pirouetten nicht immer ganz korrekt beenden. Einen ganz vorzüglichen Eindruck machen die zahlreichen Halbsolisten in ihren kleinen Soli und Ensembles. Eine wunderbar reine, jungfräuliche Raymonda, die von dem für sie elementaren Gefühlssturm überwältigt wird, ist Lisa-Maree Cullum, von natürlicher Anmut und Charme nebst gewinnender Ausstrahlung, nicht zu reden von ihrer sicheren Technik, mit der sie den enorm verschiedenartigen Anforderungen ihrer riesigen Partie souverän gerecht wird. Sozusagen eine Weiße Fliederfee ist Sherelle Charge als Weiße Dame, mit schier endlosen Beinen und sehr lyrischem Port de bras. Kyrill Melnikow ist der kreuzbrave Kreuzritter Jean de Brienne, ein bisschen zu brav für einen Helden von „Girusalemme liberata“-Format – da kann man Raymonda gut verstehen, dass sie dem sexy Charme und der artigen Courtoisie erliegt, mit denen Amilcar Moret Gonzalez sie als Abderachman umwirbt (wenn man freilich gerade Vladimir Malakhov und Carlos Acosta gesehen hat, ahnt man, wieviel mehr an tänzerischem Dynamit in diesen beiden Rollen steckt).
Eine spezifisch Münchnerische „Raymonda“ ist dieses Petipa-Imitat nicht geworden – dazu hätte es wohl eines John Neumeier und einer Angela Dauber bedurft. Aber vielleicht holen die ja eines Tages in Hamburg nach, was sich München leider entgehen ließ. Musikalisch und tänzerisch lohnt die neue Münchner „Raymonda“ allemal!
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