Die Rollen stärker als die Interpreten

Crankos „Onegin“ in neuer Besetzung in Stuttgart

Stuttgart, 16/04/2002

Ob die Tänzer ahnen, dass ihnen hier ein Heer von Experten gegenübersitzt? John Crankos „Onegin“ ist nicht nur das Vorzeigestück des Stuttgarter Balletts, sondern sicher auch am tiefsten in den Herzen der hiesigen Zuschauer verwurzelt – jede Neubesetzung wird deshalb mit großem Interesse und kritischer Liebe verfolgt. Die neueste Wiederaufnahme beschert bis Mai ganze dreizehn Rollendebüts und bietet immerhin fünf verschiedene Besetzungen, mehr als das Londoner Royal Ballet, mit dem das Stuttgarter Corps de ballet einen Vergleich keinesfalls zu scheuen braucht.

Mit ihren graziösen Port de bras und ihrer feingliedrigen Anmut ist Ivanna Illyenko eigentlich eine ideale Olga, nur leider wirkt ihr hübsches Lächeln wie festgefroren. Die kleinen Wackler in ihrem ersten Pas de deux mit Lenski dagegen lassen sich zweifellos beheben. Friedemann Vogel, technisch inzwischen so gut, dass er in Balanchines „Symphony in C“ sogar Robert Tewsley hinter sich lässt, gewinnt langsam doch noch an Ausdruck, obwohl er in abstrakten Balletten sicher besser aufgehoben ist. Drei Mal wendet sich der düpierte Lenski bei Tatjanas Geburtstagsfest von seiner untreuen Olga ab, und drei Mal zeigte Vogels Gesicht exakt das gleiche Entsetzen. Was ihm vor allem fehlt, und das war am deutlichsten im schön getanzten Lenski-Solo zu sehen, ist die innere Spannung, die ganz vom Inhalt bestimmte Phrasierung der Bewegungen.

Ivan Gil Ortega, der neue Titelheld, meistert die schwierigen Hebungen mühelos, dafür heben seine Sprünge im Spiegel-Pas-de-deux nicht hoch genug ab (gibt es noch einen Onegin, der beides kann?) Der Charakter, den er mit seinem ersten Solo skizziert, ist reserviert und ernst, allerdings gewinnt Onegin im zweiten Akt nicht weiter an Persönlichkeit, sondern wirkt nur überheblich. Als er dann nach Jahren Tatjana auf dem Ball wiedererkennt, bricht er ohne das langsame, bittere Verstehen sofort zusammen. Der bleiche, stolze Held verliert seine natürliche Würde und wirkt geradezu psychopathisch, was, wenn überhaupt, eigentlich erst ganz am Schluss der Fall sein sollte.

Das größte Versprechen für die Zukunft gibt sicher Alicia Amatriain, die – man muss zu diesem Gemeinplatz greifen – wohl einfach noch zu jung ist, um ihre Rolle in der ganzen Tiefe auszuloten. Anders als Julia Krämer, die bei ihrem Tatjana-Debüt zurückhaltend anfing und Raum für die Steigerung ließ, die mit der Erfahrung kommt, muss Amatriain lernen, sich zurückzunehmen. Tatjana liest ihr Buch, als ob sie wüsste, dass sie jemand dabei bewundert, sie schreibt ihren Brief mit der Siegesgewissheit eines selbstbewussten Teenagers. Was Friedemann Vogel an Spannkraft zu wenig hat, das besitzt Amatriain überreich – aber sie neigt dazu, diese erstaunliche Dehnbarkeit ihrer Glieder herauszustellen und überdehnt am Schluss gar bis in die Fingerspitzen. Als Gremin hebt Wieslaw Dudek (mit einem Make-up wie eine Leiche) seine Tatjana voller Verehrung über sich hinaus und lässt sie wahrhaft schweben - zwar strahlt auch diese Tatjana in den Armen ihres Mannes viel zu glücklich, aber Amatriains Tanz besitzt hier eine wunderbare, gelöste Ruhe.

Noch wird also in diesem Ballett der Nuancen alles etwas zu deutlich gezeigt, noch sieht es eher nach klassisch-russischer Pantomime als nach natürlichem Schauspiel aus, noch ist das Lachen ein wenig zu breit und das Leiden zu demonstrativ. Und weil es im großen Gefühlsausbruch des Schluss-Pas-de-deux eine weitere Steigerung geben muss, endete das zwangsläufig in der Übertreibung – Amatriain und Ortega ging hier auch die Kraft aus. Noch erwiesen sich am Schluss die Rollen stärker als die Interpreten.

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