Zwei neue Besetzungen für „Edward II.“
Ein Lunapark voller Attraktionen
David Bintleys abendfüllender „Edward II.“ ist wieder im Stuttgarter Repertoire
Wie jugendlich milde müssen wir doch vor sieben Jahren gestimmt gewesen sein, als uns das abendfüllende Handlungsballett „Edward II.“ bei seiner Uraufführung als ein im Wesentlichen gelungenes Stück mit wenigen Mängeln vorkam. David Bintley, einer der bedeutendsten Choreografen Englands und Chef des Birmingham Royal Ballet, hatte zur Auftragsmusik des nicht minder renommierten Briten John McCabe nach dem gleichnamigen Drama des Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe endlich wieder etwas geschaffen, wonach sich die Freunde des Stuttgarter Balletts schon lange sehnten – ein geradeaus und unverschnörkelt erzähltes Werk in pompösen Kostümen (Jasper Conran) und einem opulenten Bühnenbild (Peter Davison) – Liebe, Hass, Intrigen, reichlich Morde und Spitzentanz – besser hatte es eigentlich nicht kommen können.
Aber diese Produktion ist leider eine, der die Jahre allzu viel Schaden zufügen. Heute, bei ihrer im Stuttgarter Opernhaus lauthals gefeierten, von Bintley selbst erstklassig einstudierten Wiederaufnahme sehen wir kopfschüttelnd dieser klobigen, breitbeinig auftrumpfenden Choreografie zu, die in ständig wallenden Nebelschwaden auf dem guten Geschmack herumtrampelt, plakative Stereotypen nicht etwa zu vermeiden sucht, sondern sie gierig sammelt und immer wieder als originelle, dramatische Einfälle feilbietet. Dieser „Edward II.“ wirft die Stuttgarter Ballettkultur um Jahrzehnte hinter John Cranko zurück.
Ein unerhört bühnenwirksamer Stoff: Edward II., gerade König geworden, erlöst seinen Geliebten Gaveston aus dem Exil und stößt mit dieser exzessiv öffentlich gelebten Beziehung den Adel und seine Gattin Isabella dermaßen vor den Kopf, dass sie Gaveston ermorden lassen, den Sturz Edwards betreiben, seinen neuen Lebenspartner Despenser und schließlich Edward umbringen. Dessen Sohn Edward III., noch ein Kind, rächt wenig später den Vater, indem er seine Mutter ins Exil und ihren Geliebten Mortimer in die ewigen Jagdgründe schickt.
Da geht es zu: Die fetthaarige Rockerbande der Barone stampft über Tische und Bänke, Armeen jagen Fahnen und Hellebarden schwenkend hin und her, der Sensenmann fuchtelt langatmig mit seinem Gerät, Gavestons abgeschlagener Kopf kullert herum, die Schergen urinieren auf Edwards halb toten Körper, im bunten französischen Exil wird artig getanzt und fäusteschüttelnd Kabale getrieben – ein optischer, vulgärer Radau ohnegleichen, und immer im Nebel. Dazu liefert das unter Davor Krnjak ausgezeichnet spielende Staatsorchester mit McCabes Cinemascope-Komposition den passenden Kolossal-Sound.
Das Stück hat auch Stärken. Die bestehen vor allem in seinen seltenen intimen Szenen. Der überragende, leidenschaftliche Roland Vogel in der Titelpartie, dessen künstlerische Reife ihn auf dem Zenit seines Könnens zeigt und der berückend jugendliche Ivan Gil Ortega (Gaveston), dem das Schwanken zwischen provozierender Arroganz und verspielter Zärtlichkeit erstaunlich gut gelingt, schaffen mit ihren verliebten Pas de deux große Momente. Und Sue Jin Kang als Isabella erweist sich erneut als eine der bedeutenden Tragödinnen unserer Zeit, die selbst Bintleys schier endlose Soli des Barmens mit dramatischem Impetus auflädt. Ihre Wandlung von der leidenden Gattin zur hasserfüllten Furie ist grandios.
Leider hat sich der Choreograf für die vierte Hauptperson, Mortimer, nur martialisches Gehabe und Furcht erregende Mimik einfallen lassen. Was Robert Conn daraus macht, welche Präsenz er seiner Rolle verleiht, das hat beträchtliches Format. Überhaupt wird wieder auf bewundernswertem Niveau getanzt. Die zahllosen Nebenrollen, die Bintley kaum charakterisieren kann und die deshalb nur durch ihre Darsteller zu identifizieren sind, die großen Ensembles und gravitätischen Aufmärsche – sie alle untermauern nachdrücklich den Ruf des Stuttgarter Balletts, eine der technisch weltweit führenden Truppen zu sein.
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