Das Ungeheuer findet zu sich selbst

Erfolgreiche Wiederaufnahme von David Bintleys „Edward II.“

Stuttgart, 18/07/2002

In „Edward II.“ führte Shakespeares Zeitgenosse Christopher Marlowe in meisterhaftem Zugriff auf die Ereignisse zwischen 1307 und 1330 das Historiendrama auf einen ersten Gipfel. Gleichzeitig vollzog er den Schritt zur Charaktertragödie: Contrapunktisch sich entwickelnd, wächst „der verderbte Schwächling auf dem Thron zum großen Leidenden, der im Moment seines Sturzes die Heiligkeit und Unverletzbarkeit der Königswürde erkennt, gegen die er sich in jugendlicher Torheit versündigt hat? (KLL). Dagegen wandeln sich der gerechte Königsmörder Mortimer und die mit ihm verbündete Königin - in Konsequenz aus der von damaliger Theologie und Historie heiß diskutierten Problematik des Königsmordes – zu bestrafungswürdigen Tyrannen.

Was macht David Bintley als erzählender Choreograph in der Tradition Frederick Ashtons, Kenneth McMillans und John Crankos aus dieser Vorlage? In seinem Ballett von 1995 sind der düstere Leichenzug für den verstorbenen König und die Krönung Edwards II. damit verbunden, dass dieser seinen verbannten Liebling Gaveston zum Missfallen des Adels unverzüglich wieder in seine Gunst setzt. Dabei muten die illustrierenden Schrittfolgen den Tänzern manches zu. Auffällige Präparationen und angestrengte Hast selbst im homoerotischen Duett der beiden Protagonisten sowie die von Gefolge überfüllte Bühne lassen das Geschehen zerfahrenen aussehen. Auch der erste Pas de deux von Roland Vogel in der Titelrolle mit Sue Jin Kang als seiner königlichen Gemahlin Isabella profitierte lediglich von der dramatischen Inbrunst der schönen Koreanerin, aber choreographisch blieb alles kleinteilig, ohne zu fließen. Allmählich aber beruhigte sich der Tanz zugunsten einer inneren Dynamik, bot Bintley expressive Posen und aussagestarke Szenen.

Sein Männer-Pas de deux für Edward und Gaveston, von Ivan Gil Ortega und Vogel mit arglos-ephebischer Lust grundiert, gelang den Tänzern – und das ist nicht leicht – als ein Genuss ohne Peinlichkeit. Als Mortimer (furios: Robert Conn) die englischen Barone hinter sich sammelt und auch die durch Edwards offene sexuelle Beziehung zu Gaveston düpierte Königin dazu bewegt, eine Petition zur erneuten Verbannung Gavestons zu unterzeichnen, ziehen dunkle Wolken auf. Im Kontrast zu dieser gefährlichen Bedrohung karikiert Bintley mit einer im mittelalterlichen „Roman de Fauvel“ wurzelnden Gauklereinlage die sexuellen Beziehungen des Königs, Isabellas und Gavestons. An der heiter-bunten Unterbrechung des finsteren Dramas finden Edward und Gaveston ihr Vergnügen, bis die Barone als schwarz gekleidete Reisige die Petition überreichen. Von Edward zu Verrätern erklärt, sammeln sie in kraftvoll gestampften Ritualen ihre kriegerische Energie und exekutieren Gaveston in eindrucksvoll stilisierter Brutalität. Mit dem Racheschwur des sich vor dem Kopf des Enthaupteten entsetzenden Königs endet der 1. Akt.

Der 2. Akt sieht den König lustig mit Edward jun. spielen. Unbeweglich sieht die Königin aus der Ferne eines Lichtflurs zu. Auf einem Ball in Frankreich führt der Tanz die in ihr Heimatland enteilte Isabella wiederholt dem verbannten Mortimer zu. Den daraus hervorgehenden Pas de deux tanzt Sue Jin Kang mit der geheimnisvollen Dämonie der gedemütigten Frau, die jedoch in Rang und Würden steht, während Robert Conn überzeugend die Stärke des zum Größten entschlossenen Mannes verkörpert. Im Hintergrund zieht bereits das Invasionsheer gegen Edward auf. Hier gelingt Bintley ein Tableau, bei dem alle Proportionen stimmen.

Die Choreographie strebt weiteren Höhepunkten entgegen, wenn Isabella sich in einen Kampfrausch tanzt. Dies tut sie mit Erfolg: Denn nach der Ermordung Despensers, dem Nachfolger Gavestons in Edwards Gunst, wird der König gefangen gesetzt. Indem er vor denen, die ihn zur Abdankung zwingen, seine Rechtfertigung tanzt, wird er vom unwürdigen Sonderling zum tragischen Menschen, der seinen Lebenstraum verteidigt. Hier hatte Vogel starke Momente, indem er das, lang und schmal im schwarzen Büßerhemd, anrührend wahrhaftig zum Ausdruck brachte. Hier machte das Stück nachdenklich. Hier sah man Aktualität zwischen den Figuren blitzen. So auch als Sue Jing Kang in der großen Pose des unerbittlichen Racheengels ihrem verzweifelten Gemahl selbstgerecht den Sohn nahm. Für Edward gibt es danach keinen Halt mehr: Die Kerkermeister demütigen ihn grausam, bis sie ihn – Spiegel seiner sexuellen Neigung – pfählen. Im Anschluss an den Leichenzug des Königs wird auch sein Sohn mit einer französischen Prinzessin verheiratet und als Edward III. gekrönt. Das Schlussbild mit den Kindern auf dem Thron lässt neues Unheil ahnen...

Bintley hat mit „Edward II“ ein Stück von einer Wucht geschaffen, wie ich sie im Ballett nicht kannte. Die „Ungeheuer der englischen Bühne“ (Goethe) fanden dank des Feuers der Stuttgarter Tänzer relativ bald zu sich selbst und rührten – auch dank ihrer unverkennbaren Identifikation mit der Thematik – ganz gegenwärtig an die Frage nach mehr Menschlichkeit. Die immer vorwärts stampfende und treibende Orchesterkomposition von John McCabe trug zur großen Dimension dieses Werkes bei.

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