Unsterblicher Hamlet in Augsburg
Pick bloggt über „Hamlet“ von Stephen Mills mit Musik von Philip Glass am Theater Augsburg
Er ist dem deutschen Ballett so gut wie vollständig verloren gegangen, taucht weder im neuen Schmidt noch im neuen Reclam auf und war doch in den fünfziger und sechziger und noch bis in die siebziger Jahre einer der meist aufgeführten deutschen Ballettkomponisten: Boris Blacher, der heute hundert Jahre alt geworden wäre (beziehungsweise am 6. Januar, denn geboren wurde er in Newchwang in der Mandschurei, und das war damals ein russischer Vorposten am Gelben Meer). Es ist ein Schicksal, das auch seinen zwei Jahre älteren Kollegen Werner Egk getroffen hat (und von dem lediglich der etwas ältere Carl Orff dank seiner unverwüstlichen „Carmina Burana“ verschont blieb).
Sein erstes Ballett schrieb er 1937 für Kassel: „Fest im Süden“, wo es Ellen Petz choreografierte. Sein zweites hieß „Harlekinade“ und wurde 1940 von Walter Kujawski in Krefeld uraufgeführt, gefolgt von seinem „Zauberbuch von Erzerum“, das 1942 Adrienne Mireau in Stuttgart herausgebracht hat. Dann kam auch bereits sein „Hamlet“ zu einem Libretto von Tatjana Gsovsky, uraufgeführt in der Choreografie von Victor Gsovsky 1950 an der Bayerischen Staatsoper. Den gab es in den folgenden Jahren an so ziemlich allen deutschen Opernhäusern, Staats- und Stadttheatern – wenn sie es sich leisten konnten in der Choreografie von Tatjana Gsovsky, die mit ihrem „Hamlet“ (zuerst 1953 an der Städtischen Oper Berlin) quasi als Aushängeschild ihres Berliner Balletts die halbe Welt bereiste.
Weitere Ballette waren dann „Chiarina“ (Jens Keith) und „Der erste Ball“ (Janine Charrat – beide 1950 an der Städtischen Oper Berlin), „Lysistrata“ (Gustav Blank 1951 an der Städtischen Oper Berlin), die Ballettoper „Preussisches Märchen“ (basierend auf Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“, Blank 1952, ebenfalls an der Städtischen Oper Berlin). Für die Eröffnungsfestivitäten der wiedererstandenen Wiener Staatsoper komponierte er 1953 „Der Mohr von Venedig“ (Libretto und Choreografie: Erika Hanka), dann folgten noch das von Yvonne Georgi mit dem Ballett von Hannover 1964 in Schwetzingen uraufgeführte „Demeter“ und zum Schluss sein zusammen mit Tatjana Gsovsky entstandener „Tristan“ 1965 an der Deutschen Oper Berlin. Gibt es einen anderen deutschen Komponisten, der so viele Ballette komponiert hat? Verschiedentlich wurden auch seine „Paganini Variationen“ (1947) vertanzt (Todd Bolender 1963 in Köln, Uwe Scholz 1984 in Frankfurt) – wohl auch noch die eine oder andere Konzertmusik.
Schade, dass das alles vergessen sein soll – dass sich zu seinem hundertsten Geburtstag auch nicht ein einziger Choreograf seiner Musik angenommen hat. Dabei hat uns seine Musik damals ausgesprochen angemacht – und erst recht natürlich die Tänzer, die sich nicht zuletzt von seiner prickelnden Rhythmik inspiriert fühlten und von seiner zielstrebig auf den dramatischen Kern zusteuernden Dynamik. Jedenfalls war das eine Musik, auf die man noch hinhörte, die sich in unser Gedächtnis förmlich eingebrannt hat, was ich von wenigen der heute komponierten Ballettmusiken behaupten würde. Aber vielleicht erinnert ja die für diesen Herbst geplante Ausstellung der Berliner Akademie der Künste über das deutsche Nachkriegsballett daran, dass es auch vor Cranko schon Ballett in Deutschland gegeben hat – und in diesem Zusammenhang auch an Boris Blacher, über den übrigens vor ein paar Monaten eine sehr informative Monographie von Stephan Mösch, dem Chefredakteur der „Opernwelt“, erschienen ist: „Der gebrauchte Text. Studien zu den Libretti Boris Blachers“, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart – Weimar 2002, 350 Seiten, ISBN 3-476-45305-7, 34.90 Euro.
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