Interview mit Anna Polikarpova
Die Tänzerin Anna Polikarpova über John Neumeiers „Weihnachtsoratorium“
Die Uraufführung von John Neumeiers „Weihnachtsoratorium“ in Wien
Eine anonyme Masse, kofferbewaffnet (wie üblich) auf Wanderschaft. Ein Mann schiebt sich durch die Menge, trägt ein kleines Weihnachtsbäumchen vor sich her, gebeugt von den Mühen des Alters. Es könnte John Neumeier sein, Choreograf des Bachschen „Weihnachtsoratoriums“, uraufgeführt an diesem Abend vom Hamburg Ballett im Theater an der Wien. Aber es ist nicht Neumeier, sondern sein tanzendes Alter Ego, Lloyd Riggins, der schwer trägt an der Last seiner Erfahrungen. Und der Baum ist die Verheißung, die Utopie seines Lebens, das ihn ein halbes Jahrhundert immer wieder zu Bach geführt hat: die „Matthäus-Passion“, das „Magnificat“, zu mancherlei konzertanten Abstechern, mit mancherlei Umwegen über Händel („Messias“) und Mozart („Requiem“). An diesem Abend geleitet von Alessandro de Marchi, und begleitet von einem handverlesenen Solistenquartett mit Christoph Prégardien als Evangelist und Tenor, den Wiener Symphonikern und dem Arnold Schoenberg Chor. Es ist ein großer Abend, an dem sich an diesem Ort alle bewusst sind: Mozart und Beethoven hören mit.
Neumeier hat sich auf die ersten drei Kantaten des Zyklus konzentriert, paraphrasiert tänzerisch das Geschehen um die Geburt Christi, ohne es direkt nachzuerzählen. Die Personen sind erkennbar: die Mutter – hoffnungsvoll bangend Anna Polikarpova, wie von Käthe Kollwitz modelliert, Peter Dingle – der Mann, fest und voller Empathie, und doch irritiert von dem Unbegreiflichen, Carsten Jung als Hirte, Silvia Azzoni und Arsen Megrabanian als lichtbringende Engel. Und es wechseln ab: Szenen des Jubels und der erwartungsvollen Freude, des Bangens und der Verzagtheit, der zärtlichen Zuneigung, die sich in minimalen Gesten zu erkennen gibt – in weiten Schwüngen und ekstatischen Raumeroberungen, in Gruppenbildungen und Soli – auf der von Ferdinand Wörgerbauer leer geräumten, nur mit wenigen zeichensetzenden Markierungen bestückten Bühne. Welch ein Kosmos der Gefühle, der Leidenschaften und Temperamente! Ausgedrückt in einer Körpersprache, aus der alles Klassische verbannt ist, einem Espressivo gestico.
Ballett? Tanztheater? Eher eine getanzte Feier in Erwartung eines freudigen Ereignisses. Die Neumeier am Schluss noch einmal bekräftigt, indem er den Eingangs-Coro wiederholt: „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage ...“ Wonach man sich fragt, welches denn wohl die nächste Station von Neumeiers Pilgerschaft auf dem Weg zu Bach sein wird. Bevor er dann sicher als Finale bei der h-moll-Messe angelangt sein wird. Wie wär‘s denn mit einem Abstecher bei den weltlichen Kantaten in ihrer originalen Form, die ja im Parodieverfahren so viel zur Musik des „Weihnachtsoratoriums“ beigetragen haben?
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments