Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine Saison mit „Onegin“ von Cranko
Allüre und Melancholie: Marlon Dinos phänomenales "Onegin"-Debüt
Mit weiteren zwei Debutanten führte sie die Zuschauer in Zeitlupe ans Ziel
Beinahe hätte man übersehen, dass Tatjana bereits am Rand der Vorbereitungen zu ihrem Geburtstag in ein Buch vertieft ist, denn noch fehlte Natalia Kalinichenko in Szenen, in denen andere handeln, die Präsenz der sich interessant abhebenden Heldin. Im Zentrum vergnügt sich zunächst ihre kleine Schwester Olga mit ihren Freundinnen. Ivy Amista tanzte das bei ihrem Debut technisch sehr gut, wirkte in ihrer Freude aber zu mechanisch, nicht erfüllt von etwas und deshalb ohne emotionale Mitteilung nach außen. Dieses für Ballette von John Cranko unentbehrliche Element brachte erst Lenskis Auftritt dank Alen Bottaini hinein, der von Anfang an zeigte, was Ausstrahlung heißt, in diesem Fall die eines jungen Verliebten. Im Pas de deux mit ihm legte auch Ivy Amista zu, bemühte sich sichtlich um darstellerische Öffnung, was ihr auch zunehmend gelang. Sie müsste vielleicht mehr mit dem Atem arbeiten und diesen mit Bedeutung färben, um selbst mehr Farbe zu gewinnen.
Natalia Kalinichenko begann neben dem selbstbezogenen Onegin mit kostbarer Stilistik sehr aus der Ruhe, und alles wirkte wie in Zeitlupe, zumal Cyril Pierre – erstmals nach langer Verletzung wieder auf der Bühne – durch leichte Unsicherheiten seiner Partie an tänzerischer Dynamik einiges vorenthielt. Elektrisierender als das erste Zusammenspiel mit dem Titelhelden gelang ihr die Szene in Tatjanas Schlafzimmer, als deren innere Bilder sie organisch zum Schreiben des Briefes trieben, über dem sie von ihrem Traum, dass Onegin durch den Spiegel kommt und sie liebt, glaubhaft mitgerissen wurde. Jetzt sah man von beiden tänzerisches Feuer und authentischen Ausdruck. Insbesondere die Debütantin zeigte sich erstmals auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, indem sie, zum Medium der Musik werdend, den Überschwang von Tatjanas Emotionen sichtbar machte.
Einen längeren Anlauf brauchte sie auch im 2. Akt, an dessen Anfang der Aufmarsch der Gäste zu Tatjanas Geburtstag in den Details gut durchgearbeitet war und Irene Steinbeißer und Stefan Moser als gebrechliche Alte mehr als je zuvor zum Lachen reizten. In den Hauptszenen, in denen Onegin die seine Antwort ängstlich erwartende Tatjana stehen lässt, während Olga und alle anderen tanzen, und dann ihren Brief und sie zurückweist, wirkte Natalia Kalinichenko noch zu verhalten. Ganz anders ihr anschließendes Tatjana-Solo: Wie nervös-verzweifelt sie die Verlorenheit ihrer Liebesmühen in einem wahren Seelen-Entblößungstanz sichtbar machte, war von geradezu verstörender Eindruckskraft. Mit dem ihr unerreichbaren Onegin tanzt dann bekanntlich Olga. Ivy Amista neckte Lenski dabei so, dass dessen Wut ausbrechen musste. Sie sollte die Balance zwischen Olgas gewinnendem Charme und ihrer naiven Unbedarftheit, die eigentlich unmöglich ist, etwas feiner erspüren, um Lenskis tragischen Entschluss zum Duell mit Onegin subtiler – und somit wirkungsvoller als Unglück aus heiterem Himmel – darzustellen. Wunderschön tut sich dann Jürgen Roses Bühnenbild auf, und Alen Bottainis Variation zu Lenskis Abschieds-Largo ließ tänzerisch und emotional nahezu keine Wünsche offen. Auch das Scheitern der Versöhnungsversuche wirkte in jedem Moment stimmig, und doch fehlte Natalia Kalinichenko auch hier noch ein Zug diskreter Autorität der durch poetische Lektüre andersartigen älteren Schwester.
Nach einem Zeitsprung von zehn Jahren erscheint Onegin auf einem Ball des Fürsten Gremin, dessen Frau Tatiana mittlerweile ist. In diesem 3. Akt tanzte das Bayerische Staatsballett ganz auf die Höhe von Crankos großartiger Choreografie. Das Corps de ballet, das schon in den beiden vorigen Akten die Bauerntänze und die des bürgerlichen Milieus bravourös realisierte, eröffnete ihn hochelegant mit einer Grande Polonaise, die das Geschehen in der St. Petersburger Aristokratie ankommen lässt. Von Gremin begrüßt und von der Vergangenheit träumend, als er die Aufmerksamkeit vieler Frauen erregte, muss Onegin sehen, wie die einst von ihm verschmähte, zur Schönheit gereifte Tatjana nun mit dem fürstlichen Gatten tanzt. Dabei spannten sich Natalia Kalinichenkos Füße und Elevation stilistisch blendend, über die Musik hinaus atmete ihr Tanz. Mit Norbert Graf als unauffällig alles im Fluss haltendem Partner ertanzte sie das Strahlen gediegenen Glücks mit so überzeugendem Legato, dass man meinte, alle Sehnsucht Tatjanas sei nun gestillt. Doch folgt bekanntlich deren überraschende Begegnung mit Onegin, die sie irritiert zurückweist, und der geniale Schnitt durch den groß besetzten Gesellschaftstanz, ehe sie in ihrem Boudoir erscheint. Hier fand Natalia Kalinichenko nach dem Abschied von Gremin, den Norbert Graf bei seinem Debut sehr reserviert hielt, angesichts des Briefes von Onegin überzeugend in Tatjanas Zerrissenheit und zeigte in der seelischen Dramatik ihre größten Stärken.
Welch eine sich tänzerisch verausgabende Interpretation dieser Zerrissenheit im finalen Pas de deux! Willkommen auf dem höchsten Level der Tatjana-Tänzerinnen! Ihre Verlorenheiten in den Ensembleszenen beim Debut (ohne Bühnenprobe!) werden sich bald verlieren, zumal sie darauf verzichtete, markierend zu füllen, wo echte Gefühle noch fehlten. Hohe Anerkennung auch für die jederzeit rollendeckenden Leistungen ihrer beiden Partner!
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