Eine kühle, sehr edle Ritterbraut

Mit seiner „Raymonda“-Bearbeitung durch Ray Barra überzeugte das Bayerische Staatsballett vor allem als klassisches Ensemble

München, 01/12/2007

Nun fehlt nur noch Le Corsair, dann sind die sieben Meisterwerke aus der Zarenzeit, die Marius Petipa geschaffen hat, im Münchner Repertoire komplett. Dass Raymonda ein Werk von 1898 ist, in dem der greise Choreograph weitgehend von Handlungs- und Charakterzeichnung abstrahierte, vielleicht bereits um der Emanzipation des Tanzes einen Weg zu bahnen, war Ballettdirektor Ivan Liska bewusst. Damit der keineswegs sicher tradierte Divertimenti-Marathon nicht akademisch glatt an den Emotionen des Publikums vorbeilaufe, beauftragte er Ray Barra, aus Tänzern durch psychologisch differenzierte Motivation wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut zu machen sowie - in der musikalischen Einrichtung von Maria Babanina - die drei Akte zu raffen und wo nötig zu ergänzen. Heutige Sehbedürfnisse sollte die Ausstattung durch Klaus Hellenstein, die Erwartungen an Alexander Glasunovs Komposition das Dirigat des St. Petersburgers Alexander Titov befriedigen.

Das meiste davon gelang. Zwar erlebte man in Ray Barras Neufassung den Konflikt Raymondas, wie weit sie, da ihr Verlobter sie um seiner Ritterideale willen oft allein lässt, dem faszinierenden Werben des sarazenenischen Kalifen Abderakhman nachgeben dürfe, als seltsam undramatisch: Spannungsbögen, die die Variationen und Pas de deux der Protagonisten unterschiedlich aufladen und färben sollten, waren kaum ersichtlich. Doch während man noch glaubte, dass das Geschehen einen nicht wirklich berühre, begann ganz allmählich der Zauber des Tanzes selbst zu wirken. Vorbereitend trat Sherelle Charge als Weiße Dame - der gute Geist Raymondas und ihres Hauses - hinter einer weiblichen Gestalt aus (Theater-)Marmor vor. Langliedrig eroberte und prägte sie den Bühnenraum mit lyrisch fließenden Bewegungen, ehe die Hofgesellschaft auftritt. Darunter Kirill Melnikov als Jean de Brienne, der als großrahmiger, hochkultivierter Tänzer seine Rolle repräsentativ ausfüllte, und Chantal Gagnebin, die als Gräfin Sybille einen Schleier und weiße Blumen als Attribute jungfräulicher Unschuld vor dem steinernen Frauenbildnis niederlegt, über dem baldachinartig eine gotische Turmspitze hängt. Das mit seinen Auslassungen lichte Bühnenbild zitiert architektonische Elemente, in denen sich die spätmittelalterliche Ritterwelt behauptet.

In diese tritt Raymonda, und Lisa-Maree Cullum zeigte bereits in ihrer ersten Variation makellose Balance, in der zweiten souveräne Spitzentechnik. Dazwischen tanzen zahlreiche Gruppen- und halbsolistische Ensembles, die in Musikalität und Stil überzeugten. Unter ihnen sind Raymondas engste Freundinnen (Laure Bridel-Picq und Michelle Nossiter) sowie die Troubadoure (Christian Ianole und Roman Lazik) hervorzuheben. Weil sich die virtuosen Einlagen und Variationen so präzise und synchron aneinanderreihten, ergab sich statt Ermüdung ein magischer Akkumulationseffekt: Man musste die choreographischen Kostbarkeiten Petipas, die Ray Barra belassen oder unter strikter Einhaltung des klassischen Kanons durch eigene Passagen ergänzt hat, einfach genießen.

In das Fest zu Raymondas Namenstag tritt der Sarazene Abderakhman, der ihr aus seiner Gegenwelt einen Jasminzweig als Symbol der Leidenschaft verehrt. Damit sind die Requisiten vollständig, mit deren Hilfe Raymondas Schwanken zwischen Jean und Abderakhman für jedes Kind verdeutlicht wird. Lisa-Maree Cullum stellte dies mit einem sehr feinen Ausdruck der Sehnsucht und mit dezenten Reaktionen dar, ertanzte im Traum-Pas de-deux mit Kirill Melnikov Innigkeit und offenbarte gediegene Adagio-Qualitäten, ehe sie gelöst ins spielerische Temperament wechselte. Hier, im Traum Raymondas, sprang Kirill Melnikov hohe dreifache Capriolen, weich landend. Doch am Ende des Traumes, der in eine brillante Ensemble-Leistung eingebettet ist, nimmt plötzlich Abderakhman, trotz gütigen Einschreitens der Weißen Dame, Jeans Stelle ein. Sein Pas de deux mit Raymonda signalisiert die erotische Kraft exotischer Dynamik. Nun ist die Statue im Hintergrund von keiner Turmspitze mehr überwölbt, sondern von einem orange-gelben, halbmondförmigen Lichtkreis umlodert.

Eben dieser Turm ist aber am Ende, als nach der verhinderten Entführung Raymondas durch Abderakhman und seiner Tötung durch Jean de Brienne die Hochzeit gefeiert wird, als Apotheose des Rittertums wieder an seiner Stelle. Doch der Ritter, das zeigt sein Pas de deux mit Raymonda, den er in ihren Augen als Mörder des hingebungsvollen Sarazenen beginnen muss, hat einiges gelernt. Obwohl sie dazu wenig Zeit haben, gelang es Kirill Melnikov, das mit Lisa-Maree Cullum auszudrücken, während er seine Verlobte zurückgewinnt. Ein starker Partner, hat Melnikov doch tänzerisch das Potential seiner Partie nicht voll ausgeschöpft, ebensowenig wie Amilcar Moret Gonzales die des Abderakhman. Der seit seinem Basilio im September sichtlich erstarkte Tänzer gestaltete seine Auftritte mit hohen Sprüngen zunächst sinnlich und spannend, kam sicher durch die Grand Manege und gab stets eine gute Figur ab, verlor aber auf Dauer dadurch, dass ihm nichts Exotisches oder Verführerisches mehr einfallen wollte. Lisa-Maree Cullum, die ihre gigantische Rolle bewundernswert zart und luftig tanzte, legte ihren Ausdruck manchmal so fein an, dass er sich verflüchtigte. Nur ein wenig mehr an Emotion, die sich aus ihrem Inneren vermitteln würde, fehlt zur Vollendung, fehlte dazu, dass wir sie wirklich vom erwartungsvollen, irritierten, in seiner Rebellion gescheiterten Mädchen zur liebenden Frau wachsen sahen.

Da auch der zweite Akt eine von tadellosen Variationen durchsetzte tolle Folge in den Tänzen von Freunden, Freundinnen und Gefolge Abderakhmans aufwies, ehe er in den temperamentvollen Czárdas und den Grand pas hongrois des Hochzeitsfestes mündet, triumphierte insgesamt die Form des klassischen Balletts als eigentlicher Inhalt auch dieser behutsam modernisierten Raymonda-Rekonstruktion. Darauf, dass sich das Bayerische Staatsballett erneut als erstrangiger Träger der Kunst Petipas bestätigte, kann man in München stolz sein. Neben dem Bühnenbild und den malerischen Kostümen von Klaus Hellenstein sowie der stimmungssicheren Beleuchtung von Christian Kass trug die Freude an der Musik von Alexander Glasunov, die das Bayerische Staatsorchester unter Alexander Titov in kraftvollem Farbenreichtum klar nuanciert und feurig spielte, entscheidend dazu bei.

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