Ballett der Spitzenklasse
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Wenn Carlos Acosta dieses Buch wirklich aus der eigenen Feder geflossen ist, ohne fremde Beihilfe, dann steckt in ihm außer dem begnadeten Tänzer, als den man ihn kennt, ein ebenso talentierter Schriftsteller. Kaum je hat man eine dichtere, packendere, dabei extrem authentische Autobiografie gelesen, kaum je mehr das Gefühl gehabt, unmittelbarer Zeitzeuge der Ereignisse zu sein. Doch was sich spannend und rührend wie ein Ballettmärchen liest, ist ein aus brennender Erinnerung verdammt real nachgezeichneter Werdegang in einer verdammt realen Welt. Und wer Kuba kennt, der weiß, wie hart auch und gerade dort Leben sein kann.
Begonnen hat das des Carlos Acosta 1973 in Los Pinos, einem Randviertel von Havanna: als Sohn eines schwarzen LKW-Fahrers und Nachfahren von Zuckerrohr-Sklaven sowie einer weißen, spanischstämmigen Hausfrau, mit mehreren Schwestern und in finanziell lausigen Verhältnissen. Arm, stolz und glücklich wohnte man dennoch in dem baufälligen Häuschen. Fußballer möchte der Junge werden, ein kubanischer Pele, bringt es im Breakdance zu lokalen Ehren. Doch sein Vater träumte seit einem Filmbesuch lange vor Carlos’ Geburt den Traum vom Ballett, und diesen Traum setzt er hartnäckig und dickköpfig mit seinem Sohn um. Der wehrt sich, schwänzt immer wieder die verordnete Ballettschulausbildung, flieht zurück in die Freiheit, die Welt von El Moro, wie er hieß, als er noch in Los Pinos Breakdance-Wettbewerbe gewann. Die Lehrer an der Ballettschule haben es nicht leicht mit ihm, doch auch er selbst hat es nicht leicht mit sich. Er lernt Ballett und denkt Fußball, glaubt sich vom Vater um sein Lebensziel betrogen, verkriecht sich zunehmend in sich, wird aggressiv, lügt sich durch, stiehlt – und fühlt sich entsetzlich einsam. Aus El Moro wird, im Spiel mit seinem zweiten Vornamen, Junior el Desastre, Katastrophen-Junior.
Bewegend schlicht und nüchtern schildert Acosta seine Wegmarken, benennt rückhaltlos ehrlich seine Ängste, Unsicherheiten, Beklommenheiten, denn auch in Kuba sind Schwarze nicht zum Erfolg prädestiniert. Ein Schlüsselerlebnis wird zur „Fanfare der Berufung“: die Sprunggewalt eines Solisten beim Gastspiel des Nationalballetts in Pinar del Río. An die dortige Ballettschule wurde der widerspenstige Carlos strafversetzt, so wie jener Solist würde er gern fliegen können.
Langsam erwacht sein Ehrgeiz, doch Ablehnung in der ersten Liebe treibt ihn bis zum Selbsthass. Die höchstmögliche Punktzahl bei der Abschlussprüfung in Pinar öffnet ihm die Tür zurück nach Havanna, an die berühmte Kaderschmiede des kubanischen Balletts. Als Meisterschüler darf er ein Jahr in Turin studieren, gewinnt den selten vergebenen Grand Prix beim Wettbewerb in Lausanne, den Grand Prix auch in Paris. „Schreie eines eingesperrten Tieres“ nennt er seinen Tanz. Bescheiden, menschlich, warm- und weitherzig, sensibel, auch witzig beschreibt er die quälenden Selbstzweifel, die auch weiterhin seinen Weg pflastern wie bei anderen Steine. Kein professioneller Erfolgsjäger berichtet da von einem glanzvollen Aufstieg, sondern ein über weite Zeiträume zutiefst mit sich zerworfener Mensch, der Liebe und Anerkennung braucht wie Luft zum Atmen und in dem sich die Bedrängnisse einer ganzen sozialen Schicht zum Psychogramm verdichten.
Bezeichnend für Acosta sind nicht nur seine unlösbare Verwurzelung in der kubanischen Heimat und ihrer Natur, für die er wunderbare Metaphern findet, sondern auch: dass er seine steile Karriere an die Spitze, vom English National über Houston ans Royal Ballet, eher anreißt, während die Bindung an die Familie als Quell seiner Kraft weit mehr Raum einnimmt. Liebe, Sex, Religion, Europas ihm fremdes Leben und Weihnachtsbräuche, die Lage auf seiner Heimatinsel, auf all diese Themen geht er mehr oder weniger intensiv, immer jedoch mit starkem Gerechtigkeitsgefühl ein.
Dann kommt der „normale“ Tänzeralltag: Proben, Vorstellungen, Tourneen, Gastspiele, Triumphe und langwierige Verletzungen. Wenn seinem Vater das letzte Wort, der letzte Gedanke der Biografie gehört, ein Gedanke tiefer Dankbarkeit, dann hat sich ein weiterer Kreis geschlossen, wie Acosta sie in diesem Buch immer wieder meisterhaft zu schließen versteht.
Was die aufwühlende, gut portioniert in drei Teile gegliederte Lektüre über ein prall gefülltes, bisweilen explosiv geladenes Leben trübt: Die Übersetzung ist so schlampig redigiert, dass beispielsweise ganze Hundertschaften von Kommata fehlen. Neuauflagen, die man Acostas bekenntnishafter Selbstdarstellung wünscht, müssen das verändern.
Carlos Acosta: Kein Weg zurück – Die Geschichte eines kubanischen Tänzers. Schott Music 2008, 368 Seiten, ca. 50 Schwarzweißfotos, ISBN 978-3-7957-0192-5. Preis: EUR 24,95
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