Ein überfälliges Thema
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Heinz Spoerli, seit 1996 Chef des Zürcher Balletts, hat für seine Truppe fast jedes Jahr einen Klassiker aus dem 19. Jahrhundert neu choreografiert, darunter „Giselle“ und „Don Quixote“, „Nussknacker“ und „Schwanensee“. Er hielt sich jeweils an die Tradition, suchte aber gleichzeitig nach einem moderneren Zugang.
Jetzt feierte das Zürcher Ensemble Premiere mit „La Sylphide“, dem frühen romantischen Handlungsballett, das erstmals mit Spitzentanz aufwartete. Spoerli hat es diesmal aber nicht selber inszeniert, sondern den 36-jährigen dänischen Tänzer Johan Kobborg mit der Choreografie beauftragt. Der hält sich so eng wie möglich an die Uraufführung in Kopenhagen von 1836, in der Version von August Bournonville (1805-1879), mit Lucile Grahn in der Titelrolle. Bournonville tanzte damals auch selbst den in die „Sylphide“ verliebten schottischen Landmann James, der die Elfe ungewollt zu Tode bringt und sich selbst ins Unglück stürzt.
Kobborg kennt die Rolle dieses James in- und auswendig, hat er den Part doch unzählige Male beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen, bei der Truppe von Peter Schaufuss, beim englischen Royal Ballet (wo er heute Solist ist) und anderswo getanzt. Dabei lernte er auch unterschiedliche Interpretationen dieser Figur kennen. Kobborgs Ehrgeiz war nun nicht etwa, eine weitere Variante von „La Sylphide“ zu schaffen. Im Gegenteil, er wollte seine Choreografie möglichst nah an die Originalfassung von August Bournonville mit der Musik von Herman S. Løwenskjold (1815-1870) bringen. Er studierte Unterlagen aus jener Zeit und rekonstruierte unter anderem die ausgedehnten Pantomimen, die zum Bournonville-Stil gehören.
Kobborgs Choreografie kam erstmals 2005 beim Royal Opera House Covent Garden auf die Bühne. Es folgten Einstudierungen am Bolschoi-Theater in Moskau und beim Kobayashi-Ballett Tokio. Und jetzt also Zürich. Ehrlich gesagt: Manchmal wirkt diese „Sylphide“ schon recht museal. Vor allem in jenen Szenen, die dem Landvolk gewidmet sind: Diesen schottischen Mädchen und Jungen in ihren Faltenröcken und Schnallenschuhen, die unverdrossen Frohsinn demonstrieren! Berückend dagegen die Szenen im Wald, wo die Sylphide und ihre Gefährtinnen auf Spitze ihre Reigen tanzen; dabei entwickeln sie Muster, die an filigrane Scherenschnitte erinnern. Das ist echte Ballettromantik. Und man erinnert sich daran, dass die Kleidung dieser Luftgrazien – wadenlange weiße Gazeröcke mit engen Korsagen – zum Vorbild für die Wilis in „Giselle“ (1841) oder die verzauberten Mädchen in Iwanow/Petipas „Schwanensee“ (1895) wurden.
Yen Han vom Zürcher Ballett in der Titelrolle ist eine Sylphide, wie man sie sich zauberhafter nicht vorstellen kann. Leichtfüßig schwebt sie über die Bühne, unglaublich grazil sind ihre Posen, wie man sie von Bildern der legendären Ballerinen Carlotta Grisi oder Marie Taglioni kennt. Während bei Yen Han das Spiel der Arme als besonders hoch entwickelt auffällt, ist es bei Arman Grigoryan (James) die virtuose Beinarbeit: Er demonstriert Bournonville-Stil pur.
Zum Bournonville-Stil gehören aber auch unabdingbar Mimik und Pantomime. Beispielsweise in der Rolle der Madge. Während diese in der Urfassung der „Sylphide“ en travestie gegeben wurde, ist sie bei Kobborg eine echt weibliche Hexe, von Sarah-Jane Brodbeck eindrücklich verkörpert. Erinnerungen werden wach ans Stuttgarter Ballett, wo Marcia Haydée in der „Sylphide“-Fassung von Peter Schaufuss diese Madge zelebrierte. Und nochmals Stuttgart: Sein Dirigent James Tuggle leitete bei der Zürcher Premiere das hiesige Opernorchester souverän.
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