Die besten Multiplikatoren, die man sich wünschen kann

Rainer Woihsyk zum 50-jährigen Jubiläum der Noverre-Gesellschaft

Stuttgart, 05/07/2008

In diesem Jahr feiert die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft ihr 50-jähriges Jubiläum. Gegründet wurde sie am 5. Mai 1958 eigentlich als eine Gesellschaft von Ballettfreunden, begann aber schon bald in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Ballett Abende für junge Choreografen zu veranstalten. Im Laufe der Jahre haben dort zahlreiche junge Tänzer ihre ersten choreografischen Versuche unternommen, darunter berühmte Namen wie John Neumeier, Jiří Kylián, William Forsythe oder Uwe Scholz. Als Nachfolger des inzwischen 85-jährigen Gründers Fritz Höver, der heute Ehrenvorsitzender der etwa 260 Mitglieder ist, leitet nun Rainer Woihsyk die „Freunde des Balletts“, deren Gesellschaft nach Jean-Georges Noverre benannt ist, dem berühmten französischen Ballettmeister und Tanztheoretiker am Württembergischen Hofe. Im Gespräch erzählt Rainer Woihsyk über (fast) 50 Jahre „Junge Choreografen“, über die Stuttgarter Tanzgeschichte und über Tanz im Nachkriegsdeutschland.

Redaktion: Hatte Fritz Höver damals ein Vorbild für die Noverre-Gesellschaft?

Rainer Woihsyk: Nein, er ist selbst auf die Idee gekommen. In Deutschland waren wir auf jeden Fall die erste Ballettgesellschaft. Es gab gleich danach auch in München eine, als der damalige Ballettdirektor Heinz Rosen noch lebte, der einen sehr interessierten Freundes- und Aktivenkreis um sich herum hatte. Es gab allerdings sehr viele Ballettgesellschaften in England. Nicholas Beriozoff war damals in Stuttgart Ballettdirektor. Fritz und sein Freund Erich Weitmann waren wirklich in der Wolle gefärbte Ballettfans. Sie hatten auch genügend Freunde, die mitmachen wollten, um damals Beriozoff zu unterstützen, denn sie hatten ja auch die Zeit davor mit Robert Mayer und Oswald Lemanis und so weiter erlebt.

Der Krieg war vorbei und das Leben war für alle ungefähr gleich, da gab es nicht viele Unterschiede. Sie waren jung und haben sich so richtig ins Theaterleben reingeworfen. Zwölf Leute waren es ingesamt, die sich damals zusammentaten, viele von ihnen leben heute gar nicht mehr. Ihr Ziel war es, das Wissen ums Ballett zu erweitern und einer weiteren Bevölkerungsschicht zur Kenntnis zu geben, Choreografen zu fördern, Tänzer zu fördern. Für das Ballett insgesamt etwas zu tun, was ja sonst niemand tat – für die Oper gab's immer jemand.

Ich glaube, es gab einmal ein Gastspiel, 1955 oder so, da war das New York City Ballet im Großen Haus, das war der Stromstoß für alle Ballettfans. Plötzlich haben die Stuttgarter gemerkt, dass es rund ging auf der Welt. Das muss man sich mal vorstellen, das war etwa 10 Jahre nach dem Krieg, und da bekommen die plötzlich die große Welt vorgesetzt im Ballett! Nicht dass sie die Klassik vermisst hatten, aber die Moderne! Man hatte den deutschen Tanz, den die Nazis gerade so erlaubt hatten, man war über 10 Jahre lang abgetrennt gewesen von allen Informationsquellen und musste nun erstmal mit der Ballettklassik fertigwerden. Dieses erste Gastspiel war also elektrisierend für alle.

Redaktion: Konnte man sich überhaupt über Ballett informieren? Gab es Bücher?

Rainer Woihsyk: Wenn überhaupt, dann nur auf Englisch. Vieles wusste man einfach tatsächlich überhaupt nicht. Und die deutschen Tänzer und Choreografen waren ja immer noch am Werk! Harald Kreutzberg hat immer noch seine Tanzfeiern gemacht, im alten Stuttgarter Kammertheater habe ich den damals noch gesehen. Aber es kamen mehr und mehr Gastspiele, Susanna und José und so weiter, das haben wir uns natürlich alles angeschaut. Und man kam sich dann schon sehr fachmännisch vor … (lacht).

Redaktion: Die Lecture Demonstrations, die von der Noverre-Gesellschaft veranstaltet wurden, begannen erst mit Cranko?

Rainer Woihsyk: Richtig. Man hatte damals noch gar keinen Ausdruck dafür, man nannte es „Demonstrationen“. Cranko erkannte sofort, was er mit der Noverre-Gesellschaft für ein Instrument an der Hand hat. Der fragte gar nicht, wieviele Mitglieder es sind oder so, er war sofort begeistert. Er fragte, was wir machen und sagte: „Das ist viel zu wenig! Wir müssen mehr machen, wir müssen Bücher rausbringen!“ Er dachte an Tamara Karsavinas Autobiografie „Theatre Street“, die ist bis heute nicht übersetzt worden. „Und die Tagebücher von Nijinsky müssen übersetzt werden!“, sagte er, damals waren sie es noch nicht.

Redaktion: Wie kam denn dann die erste Matinée für junge Choreografen zustande?

Rainer Woihsyk: Das war eigentlich schon in den Anfangszielen vorgesehen. Die erste Veranstaltung hieß auch damals gleich „Junge Choreographen“, das war 1961.

Redaktion: Hatte man das Ziel, etwas Modernes zu fördern, oder wollte man einfach den Tanz allgemein unterstützen?

Rainer Woihsyk: Es war immer egal, was die Choreografen machen. Es war immer nur das Ziel, ihnen diese Plattform, diese Gelegenheit zu bieten, sich vorzustellen. Cranko sagte zu Fritz Höver: „Du musst den Leuten die Gelegenheit geben, auf die Schnauze zu fallen“. Er sagte nicht: „Du musst ihnen die Gelegenheit geben, groß rauszukommen“ – nein, er war der Meinung, dass nichts schlimmer ist, wenn Leute bis an ihr Lebensende rumrennen und heulen, weil ihnen niemand eine Chance gegeben hat. Also: gib ihnen die Gelegenheit, dass sie runterdonnern. Aber vielleicht auch nicht!

Redaktion: Und dann hat Fritz Höver also diesen Abend komplett organisiert, genau so wie es die Noverre-Gesellschaft heute noch macht?

Rainer Woihsyk: Ganz genau so. Er hat alles gemacht. Aber die Ansprüche an Kostüme, Beleuchtung etc. waren damals noch bescheiden, das muss man dazu sagen. Probenzeiten gab es dafür reichlich, die Kompanie hatte ja wenig Vorstellungen damals, und alle waren froh, wenn sie mitarbeiten konnten. Das ist heute ganz anders, schon wegen der viel größeren Vorstellungszahl. Dann kamen anfangs auch recht ungewöhnliche Choreografen zu uns, Gunther R. Eggert zum Beispiel, der arbeitete eigentlich fürs Fernsehen, war aber wirklich interessiert am Ballett und machte ein sehr ernsthaftes Stück. Oder William Millié, das war auch so ein Fernsehstar, der machte Show-Sachen und wollte mal was Seriöses machen. Und dann gab es die Leute mit den großen Anliegen - „Werden und Vergehen“ und solche Titel. Salvatore Poddine zum Beispiel, das war ein enger Mitarbeiter von Cranko, der später die Branche wechselte und Regisseur wurde, der hat auch mal so ein Drama-Ballett gemacht. Oder eines hieß „Mein junges Leben hat ein End“, damals waren die Titel noch nicht alle englisch …

Redaktion: Wann hat es sich ergeben, diese Matinéen regelmäßig bzw. jährlich zu veranstalten?

Rainer Woihsyk: Es war einfach erfolgreich. Natürlich kamen am Anfang noch nicht so viele Choreografen dabei raus, dass man behaupten konnte, die würden jetzt alles befruchten. Das dauerte schon ein paar Jahre. Aber daran hat am Anfang auch niemand gedacht. Wir fühlten uns alle wohl und hatten Erfolg. Das alte Kammertheater war klein, da passten vielleicht 120 Leute rein, da war man schon froh, wenn man das voll hatte. Es war immer nur eine Aufführung, man wagte gar nicht, eine zweite anzusetzen. Aber der Verkaufserfolg kam dann immer schneller. Später sind wir dann auch ins Kleine Haus gekommen. Gekostet hat es die Zuschauer ja eigentlich immer ganz wenig, anfangs 2,50 DM oder so – wir haben immer nur Miete bezahlt fürs Theater, dann die Gema-Kosten, und die Tänzer bekamen einen kleinen Betrag. Die Kostüme wurden in den allermeisten Fällen aus dem Fundus geholt, und damit waren auch alle zufrieden.

Redaktion: Hat die Noverre-Gesellschaft das Stuttgarter Publikum beeinflusst, zum Beispiel dessen Offenheit und Neugier? 

Rainer Woihsyk: Ich glaube ja. In den prüden Nachkriegsjahren hatte Ballett doch noch einen anderen Stellenwert, von wegen Männer in Strumpfhosen und so. Wir haben damals ein Publikum herangeholt, das sicher schon interessiert war, aber es sich vielleicht nicht leisten konnte, oder das sich nicht traute. In so kleine Veranstaltungen sind die aber gerne gegangen. Ich glaube schon, dass wir zu einer Öffnung des Meinungsspektrums beigetragen haben, zu diesem guten, wissenden Publikum in Stuttgart. Unglaublich viel bewirkt hat damals 1969 diese spektakuläre Tournee nach Amerika, bei der die Noverre-Gesellschaft mit 60 Leuten dabei war. Die Tournee hätte fast nicht stattgefunden, wenn die Noverre-Gesellschaft nicht mitgekommen wäre, denn durch die 60 Leute konnte man einen Charterflug der PanAm nehmen, was die Kosten fast um ein Drittel reduziert hat. Diejenigen, die von diesem Triumph zurückkamen, waren dann die besten Multiplikatoren, die man sich überhaupt wünschen konnte. 1972 flogen nochmal mehr als 40 mit nach Russland, da geschah dann Ähnliches.

Redaktion: Hat Fritz Höver je die Stücke kritisiert – wollten die Choreografen überhaupt Kritik von ihm hören, oder waren sie eher auf die Publikumsreaktion gespannt?

Rainer Woihsyk: Natürlich wollten sie schon wissen, wie es ihm gefällt. Und er hat es ihnen sicher sanft gesagt. Richtig eingegriffen in die Stücke hat er in der ganzen Zeit nur zwei Mal. Das war einmal bei Jan Stripling, der machte ein Ballett mit Susanne Hanke und Monika Knapp, die hatten damals komplett durchsichtige Flatterkostüme an. Das war um 1970 undenkbar. Das kommt nicht in Frage, hat Höver gesagt, sie bekamen einen Body drunter, dann sah man die entscheidenden Stellen nicht mehr. Das zweite Mal war eine Choreografin, die Marco Santi anbrachte, die wollte im langen schwarzen Mantel und Springerstiefeln auf die Bühne - und darunter völlig nackt. Auch da hat er gesagt „auf gar keinen Fall“. Sie hat dann im Trikot geprobt und bei der Vorstellung nackt getanzt, er schäumte vor Wut. (lacht) Aus der ist nie was geworden. Aber es war immer sein Prinzip, dass er vorher nichts sehen wollte, nicht mal Videos oder DVDs. Die sollen mit mir sprechen, die sollen ihre Ideen entwickeln, das reicht mir aus, sagte er.

Redaktion: Gibt es denn Choreografen, die schöne Stücke gemacht haben und doch nie was geworden sind?

Rainer Woihsyk: Ja leider. Es gibt auch welche, die es nie weiter probiert haben. Sie glaubten nicht an sich. Was sie gemacht hatten, überzeugte sie selbst nicht. Da war einmal diese Freundin von Jiří Kylián, Anne Hyde hieß sie, die machte so ein schönes Stück und dann nie wieder. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Heinz Clauss machte mal ein sehr schönes Stück – sehr konventionell, aber schön. So ausgewogen, aber er hat nie mehr was gemacht. Fritz hat immer wieder versucht, ihn zu animieren.

Redaktion: Was ist das merkwürdigste Stück, das je bei Noverre aufgeführt wurde?

Rainer Woihsyk: Die Tänzerin Ralitza Malehounova kam 2004 mit der Idee zu mir, ein großes Wasserbassin aufzustellen, und ich dachte das erledigt sich dann von selbst, aber sie fand eines im Schauspielhaus und ich habe nur noch gestaunt. Wir mussten erstmal rauskriegen, ob die Bühne im Kammertheater das aushält ... Eine ganz komische Sache gab es einmal in den Siebzigern von Gerda Daum und Frank Frey. Das war in dieser Zeit nach 1968, wo man gegen alles war, vor allem gegen „Schwanensee“, und die beiden waren auf Revolutions-Tour. Sie tourten mit einer Produktion, von der man ganz tolle Sachen hörte, und wir haben sie eingeladen. Witzigerweise machte deren Management damals Corny Littmann, der heute Schmidts Tivoli auf der Reeperbahn und den FC St. Pauli leitet. Sie kamen mit einem sehr aufwendigen Bühnenbild mit Balken und Plastikfolie und so weiter, es hat wirklich Geld gekostet. Das war dann 1973 dummerweise der einzige komplett autofreie Sonntag in Baden-Württemberg, und wir waren völlig unter uns, so 80 Leute oder so. (lacht)

Redaktion: Wann wurden die „Jungen Choreografen“-Abende denn zum ersten Mal nachgeahmt?

Rainer Woihsyk: Ich weiß noch: als wir unser 25-jähriges Jubiläum feierten, habe ich eine Rede gehalten und meiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, warum es bis dahin immer noch keiner nachgemacht hatte. Danach weiß ich den Zeitpunkt dann nicht so genau, wann diese Art von Veranstaltung anderswo auftauchte, wogegen wir natürlich nie etwas hatten! Ich war auch ganz empört darüber, dass selbst zaghafte Versuche immer ins Leere gingen. Ich führte es darauf zurück, dass sich niemand wirklich dafür einsetzt, dass all diese Ballettgesellschaften nur immer irgendwie an die Tänzer herankommen wollen oder deren Nähe suchen, aber richtig arbeiten wollte offensichtlich niemand.

Die Plätze bei uns waren immer so schnell voll mit den Stuttgarter Interessenten. Wir konnten einfach nur sieben oder acht Stücke unterbringen. Die einzige, nach der Fritz und ich wirklich die Finger ausgestreckt haben, war damals Pina Bausch. Sie hatte schon einen gewissen Ruf damals, das war 1972, da war sie noch an der Folkwang-Hochschule in Essen. Wir hatten kein Geld, um da hinzufahren, da haben wir sie einfach eingeladen. Das war nicht billiger, aber es war weniger umständlich! Es musste ja alles wenig kosten, die Tänzer sind dann mit dem VW-Käfer hierher gefahren. Sie wohnten bei Mitgliedern der Noverre-Gesellschaft und in einer Pension. Nach der Vorstellung habe ich für alle gekocht …

Damals hatte sie einen Schauspieler mit dabei, der hieß Vitus Zeplichal. Und der hat meinen 43 Jahre alten Armagnac ausgetrunken, die ganze Flasche … Man hat sich dann ja auch großzügig gezeigt (lacht). Das war schön damals und es ist alles so gut gelaufen. Pina Bausch war glücklich über das tolle Publikum. Sie hat auch gesagt, es sei das erste Mal, dass sie auf einer professionellen Bühne aufgetreten ist, sonst immer nur auf der Folkwang-Bühne oder in einem Konzertsaal oder so. Die fuhren dann nachmittags wieder zurück nach Essen – das ist heute undenkbar. Selbst mit den jüngsten Choreografen könnte man das heute nicht mehr so machen ... Ich sehe ja ein, dass die Ansprüche steigen, der Fortschritt ist da. Man kann nicht mehr sagen „Licht an, Licht aus und damit ist gut“. Aber es werden manchmal doch die Gewichte verschoben.

John Cranko hat das mal ganz klug gesagt über die jungen Choreografen: „Wir haben allen gesagt, dass sie keine Kostüme und keine Bühnenbilder bekommen. Dahinter verstecken sie sich nur, aber wir wollen das alles ganz klar sehen“. Das meine ich mit Gewichte verschieben – heute wollen die jungen Leute manchmal ein paar Tausend Euro für die Kostüme, das können wir nicht leisten! Also das kann ein gutes Ballett doch nicht ausmachen.

Redaktion: Wie begeht die Noverre-Gesellschaft ihr Jubiläum?

Rainer Woihsyk: Indem wir das tun, was wir immer getan haben, nämlich junge Choreografen fördern. Nur dieses Mal etwas internationaler, also es kommen Leute aus Chile und aus Brasilien, aus Dresden zeigt Jiří Bubeníček ein Stück mit Dresdner Tänzern.

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