100 Jahre Ballets Russes

Die 35. Nijinsky-Gala in Hamburg

Hamburg, 13/07/2009

Es war – wie alle Jahre wieder – ein fünfstündiges Mammutprogramm, das John Neumeier zum Abschluss der Ballett-Tage für die Nijinsky-Gala vorgesehen hatte. Und dies nicht nur für die Tänzer, sondern auch für die Hamburger Philharmoniker, die unter der sicheren Leitung von Simon Hewett reichlich zu tun hatten (und dieser Aufgabe bravourös gerecht wurden) mit Tscherepnin, von Weber, Debussy, Satie, Adam, Tschaikowsky, Markevitch und immer wieder Strawinsky. Denn Neumeier hatte ein großartiges Kaleidoskop zusammengestellt, das noch einmal den Ballets Russes huldigte – mit einem weiten Bogen von 1909 bis 2009. So komprimiert, so anschaulich, so modern und – vor allem von den Hamburgern selbst – so phantastisch getanzt hat man das sicher bisher nur selten gesehen.

Der erste Teil des dreigliedrigen Abends begann mit einem Überblick über Kreationen von Nijinsky und Michail Fokine. Ganz zu Beginn erst einmal Neumeiers eigene Referenz an den großen Tänzer und Choreografen: „Vaslaw“, sein erstes, in seiner Schlichtheit sehr konzentriertes, fast weihevoll-ruhiges, nie manieriertes Werk aus dem Jahr 1979 zu Klaviermusik von Johann Sebastian Bach (am Flügel: Michal Bialk, der den Bach sauber, aber auch ein bisschen sehr brav und wenig inspiriert darbot). Alexandre Riabko verlieh der Titelfigur eine anrührende Tiefe und brillierte wieder einmal mit seinem phänomenalen Können. Während der gesamten Ballett-Tage absolvierte er ein solistisches Mammutprogramm und sprang dann auch noch für den verletzten Thiago Bordin in „Josephs Legende“ ein, ohne auch nur eine Spur an Bühnenpräsenz einzubüßen oder Schwäche zu zeigen – eine unglaubliche Leistung. Aber auch Patricia Tichy zeigte in diesem Stück als Allemande, dass sie die Beförderung zur Solistin, mit der sie – ebenso wie Mariana Zanotto und Lucia Solari – in die nächste Saison geht, mehr als verdient hat.

Bis zur ersten Pause gehörte die Bühne dann weitgehend den Gästen: Leanne Benjamin und Jonathan Cope funkelten in Fokines „Feuervogel“, Mathias Heymann – jüngster Étoile der Pariser Oper – und Laetitia Pujol zeigten ein respektables „Le Spectre de la Rose“. Das Bayerische Staatsballett München war mit Nijinskys „L’Après-midi d’un Faune“ an die Elbe gereist – leider die enttäuschendste Darbietung des Abends. Gerade weil dieser Faun absolut reduziert agiert und nicht mit Sprüngen oder Pirouetten brilliert, sondern ganz aus sich selbst die Bühne füllen muss, verlangt das erheblich mehr an Präsenz, Intensität und Seele, als Tigran Mikayelyan und die sieben Nymphen zu bieten hatten. Was für Augenschmaus dagegen Fokines „Petruschka“ mit Lloyd Riggins vom Hamburg Ballett oder auch der „Danse des Bouffons“ aus Neumeiers „Le Pavillon d’Armide“, der im Original jedoch nicht vorkommt, weil das Stück sonst zu lang wäre; die sieben Gruppentänzer pfefferten ihn aber mit begeisternder Verve auf die Bühne. Bei der Gala war dieser Narrentanz (sieben Tänzer mit roten Pappnasen und weißer Halskrause) einer der Publikumslieblinge – und vielleicht bewegt das den Ballett-Intendanten doch noch, ihn ins Stück zu integrieren – es wäre ein Gewinn.

Teil zwei der Gala widmete sich Choreografien von Léonide Massine („Parade“ zu Musik von Eric Satie – mehr brav als schmissig getanzt von der Donlon Dance Company Saarbrücken, aber mit einem fantastischen Bühnenbild von Pablo Picasso!), Bronislawa Nijinska („Le Train Bleu“ mit einem ausgezeichneten Solo von Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett) und George Balanchine („Apollon musagète“ – ein Stück, das man eigentlich mit höchster Exaktheit und Konzentration zelebrieren muss, das die Gäste der Pariser Oper aber recht fade und vor allem unsauber tanzten). Teil drei schließlich wartete dann mit den eigentlichen Highlights auf: „Afternoon of a Faun“ von Jerome Robbins – das Hamburgs fantastische Silvia Azzoni mit Vladimir Malakhov vom Staatsballett Berlin zeigte, eine perfekte moderne Adaptation an Nijinskys ursprüngliches Stück – verlagert in einen Ballettsaal. Sodann Neumeiers „Petruschka“ – mit einem brillanten Yohan Stegli in der Titelrolle, einer blitzsauberen Ballerina von Carolina Agüero und einem dämonischen Mohr von Amilcar Moret Gonzales (der die Kompanie mit dem Ende dieser Spielzeit verlässt).

Das Kontrastprogramm dazu bildete ein Pas de deux der klassischen „Giselle“ mit der wunderbar elegischen und balancenstarken Isabella Ciaravola und Stéphane Bouillon von der Pariser Oper, sowie ein Pas de deux aus Neumeiers „Schwanensee“ mit der überragenden Joëlle Boulogne und Otto Bubeníček als König. Neumeier hatte dieses Stück ins Programm gehoben, um den Konzertmeister der Philharmoniker, Anton Barachovsky, zu ehren, der das Orchester leider verlässt, um nach München zu wechseln. Wir werden ihn in Hamburg schmerzlich vermissen – verstand er es doch wie kein zweiter, auch den schwierigsten Partien Schmelz, Tiefe und Seele einzuhauchen, ohne je zu übertreiben. „Nacht und Echo“, ein neuer Pas de deux von John Neumeier zu Musik des vergessenen Komponisten Igor Markevitch, leitete dann die Schluss-Trilogie ein – von Neumeier geschickt positioniert.

Hatte doch Serge Diaghilew im Sommer 1929 mit dem damals erst 17-jährigen Igor Wien besucht, um „Tristan und Isolde“ zu hören. Anschließend fuhr er nach Venedig und starb dort am 19. August 1929. Und so widmete Neumeier den nachfolgenden Pas de deux aus seinem „Tod in Venedig“ dem legendären russischen Impresario. Ivan Urban (im Frack) als Diaghilew tanzte zusammen mit Alexandre Riabko (in roter Badehose und Kopftuch!) als Nijinsky zu Isoldes Liebestod – eine fulminante Liebeserklärung und unbestrittener Höhepunkt des Abends. Zum Finale gab’s dann noch eine kleine Uraufführung von Neumeier zu Musik, die auch 1909 den ersten Auftritt der Ballets Russes in Paris beschloss: den vierten Satz aus der Zweiten Sinfonie von Peter I. Tschaikowsky, „Klein Russland“. Eine Reminiszenz an den russischen Volkstanz, aber auch an die Lebensfreude – lustvoll zelebriert von der gesamten Hamburger Kompanie, die an diesem Abend wieder einmal ihr absolutes Weltklasse-Niveau unter Beweis stellte, wie schon während der ganzen vergangenen zwei Wochen, als ein schwieriges Stück auf das nächste folgte – und wo das Publikum sowohl den Tänzern als auch dem Hamburger Ballett-Intendanten fast jedesmal mit Standing Ovations dankte. Zu Recht.

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