Das perfekte Märchen

“Schwanensee” beim Mariinsky-Festival

St. Petersburg, 19/03/2009

Bei Konstantin Sergeyevs „Schwanensee“-Fassung aus dem Jahr 1985 passt alles zusammen: Ausstattung und Dramaturgie machen das Stück zum perfekten Märchen. Manch einer mag die psychologisch spannenden Momente vermissen, die andere Schwanenseeversionen von Nurejew bis Cranko auszeichnet: den inneren Zwiespalt des Prinzen, den Konflikt mit der Mutter und den letztendlichen Triumph des Bösen. Hier im Mariinskyballett ist der Prinz wie in der Urfassung noch eine relativ profilarme, tänzerisch und schauspielerisch weniger geforderte Figur, Mutter und Tutor sind harmlos-freundlich und zum Schluss besiegt der Prinz auch noch den bösen Zauberer und zieht mit der schönen Prinzessin seines Wegs. Jedoch fügt sich all diese Freundlichkeit, die auch in den liebevoll und detailreich gestalteten Kostümen (Galina Solovyova) und im Bühnenbild (Simon Virsaladze) ihren Ausdruck findet, zu einem schlüssigen Ganzen: es wird eine magische Welt geschaffen, in der das Böse nur kurz aufscheint, um dann wie im Märchen üblich durch höhere Mächte besiegt zu werden. Diese Absicht rechtfertigt auch die Wahl der auffallend fröhlichen Musik für den letzten Pas de Deux im vierten Akt sowie die dieser unmittelbar vorausgehenden Szene des Corps de Ballet, in der sich weiße und schwarze Schwäne mischen. Das um seinen Sieg betrogene Böse trägt hier die Züge von Ilya Kuznetsov als Rothbart, dem es vor seinem Ende immerhin gelingt, seine Autorität durch höchst virtuose Sprungfolgen zu unterstreichen. Doch schließlich unterliegt er der Macht des liebenden Prinzen - in dieser Rolle gastierte der Ex-Stuttgarter und jetzige Berliner Erste Solist Mikhail Kaniskin, der so für einen Abend ins Heimatland zurückkehrte. Da er solistisch außer in seiner Variation im dritten Akt wenig beschäftigt war, erwies er sich vor allem als aufmerksamer Partner für seine Prinzessin, Viktoria Tereshkina.

Tereshkina ist gewiss nicht die lyrischste Ballerina des Mariinskyballetts und so gelingt es ihr trotz ihres makellosen Tanzes nicht, in den weißen Akten eine ähnliche Magie zu erzeugen wie etwa die grazilere und hingebungsvollere Uliana Lopatkina. Erst im dritten Akt erstrahlt die athletische Tereshkina in vollem Glanz: hier beweist sie beim Pas de Deux mit Kaniskin perfektes Timing im Spiel der Verführung, wenn sie mal ihre Glieder lustvoll wie Köder in die Höhe reckt oder wirft, mal die sanfte Scheu des weißen Schwans imitiert. In der Coda verdreht sie dem Prinzen durch eine rasende Serie an doppelten Fouettés schließlich völlig den Kopf - bei dieser Geschwindigkeit kann nur Andrei Ivanovs sympathischer Hofnarr mithalten, der im ersten Akt ähnlich blitzschnell kreiselt.

Der eigentliche Star des Stückes ist allerdings das Corps de Ballet, das dafür sorgt, dass „Schwanensee“ hier spannender ist als fast überall anders auf der Welt. Und das liegt nicht nur an Synchronität, Epaulement und hohen Beinen, sondern vor allem an der Überzeugung, mit denen die Tänzer des Mariinskyballetts sich einem Stück widmen, das in vielen anderen Kompanien oft nicht mehr wirklich ernst genommen wird. Jeder einzelne Schwan scheint sich seiner Bedeutung für das Gesamtergebnis bewusst zu sein und wenn auch wohl nicht alle in ihrer Rolle aufgehen, so spürt man doch den Willen der einzelnen, zum märchenhaft vollkommenen Gesamtbild beizutragen. Ähnliches gilt für die Charaktertänze, die nicht nur Pflichtübungen sind, sondern lust- und temperamentvoll vorgetragen werden. Wenn man dann noch wie an diesem Abend in den Genuss eines glänzend aufgelegten und von Mikhail Agrest inspiriert dirigierten Mariinskyorchesters kommt, kann es schon geschehen, dass man sich ähnlich wie der treulose Prinz in der blauschimmernden Illusion verliert.

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