Gegenwelten

Zwei Persönlichkeiten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Grete Wiesenthal und Carlos Acosta

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Stuttgart, 04/02/2009

Zwei Bücher über Tänzer aus zwei verschiedenen Welten: Das ist einmal Susanne Mundorf mit „Grete Wiesenthal – Renaissance einer Tanzform“, kein Verlag, dafür eine ISBN Nummer: 978-3-00-025612-7, Seefeld 2008, 167 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 29,90 Euro, und zum anderen Carlos Acosta mit „Kein Weg zurück – Die Geschichte eines kubanischen Tänzers“, Deutsch von Matthias Müller, Schott-Musik, Mainz 2008, ISBN 978-3-7957-0192-5, 368 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 24,95 Euro. Das Einzige, was die beiden Bücher gemeinsam haben, sind die vier ersten Ziffern ihrer ISBN-Katalognummern – eben, weil es sich bei beiden um Tänzerpersönlichkeiten handelt. Aber sie scheinen aus verschiedenen Welten zu kommen – und das ist wörtlich zu nehmen: Grete Wiesenthal verkörpert den Wiener Aufbruch in die Moderne vor dem Ersten Weltkrieg (und deren Schatten bis ins Jahr 1970), Carlos Acosta gehört zur Generation der Kinder der kubanischen Revolution, der seit 1990 eine Weltkarriere gemacht hat und seit 2003 Principal Guest Artist des Londoner Royal Ballet ist.

So verschieden die Zeiten, die sie zu dem gemacht haben, wofür ihre Namen in der Geschichte des Tanzes stehen. Wiesenthal, 1885 geboren, entstammt einer bürgerlichen, künstlerisch ambitionierten Wiener Familie aus Hietzing, damals noch eine Gartenvorstadt von Wien, wo sie in idyllischen Verhältnissen mit ihren fünf Geschwistern aufwuchs, liebevoll von ihren Eltern betreut, die die musischen Aktivitäten ihrer Kinder mit Nachdruck förderten und Grete, die Älteste, in die Ballettschule der Hofoper schickten. Sechzehnjährig ins Corps de ballet aufgenommen, wurde es ihr und ihrer Schwester Elsa aber bald zu eng in der Hierarchie des Hofopernballetts, und so entschlossen sie sich 1908 zu einer freitänzerischen Laufbahn – ganz im Sinne der sezessionistischen Bestrebungen der Wiener Kunstszene jener Jahre.  

Es folgten Gastspiele in vielerlei Städten, Max Reinhardt wurde auf sie aufmerksam und engagierte sie für verschiedene Produktionen, Hofmannsthal schrieb Pantomimen für sie und auf ihren ständigen Tourneen kreuz und quer durch Europa wurde Grete besonders mit ihren Interpretationen der Werke von Johann Strauß zu einer Ikone der Wiener Walzerkultur, deren tänzerische Technik und Stil sie prägte. Die hat sie dann an ihrer eigenen Ausbildungsstätte in Wien immer weiterentwickelt und vervollkommnet und in allen möglichen Theateraufführungen praktiziert – und bis in die Jahre nach dem „Anschluss“ und darüber hinaus bis zu ihrem Tod 1970 als Professorin an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst gewirkt. Und so kann man rückblickend und bilanzierend von ihr sagen, dass keine andere Stadt der Welt den tänzerischen Zeitgeist in einer einzigen Persönlichkeit so verdichtet hat wie das Wien des Fin de siècle in der Gestalt von Grete Wiesenthal.
 

Ganz anders der Werdegang des 1973 in einer ‚Favela‘ von Havanna geborenen Carlos Acosta. Allerärmlichsten Verhältnissen entstammend in einer wie Pech und Schwefel zusammenhängenden Familie, die von einem Vater tyrannisiert wird, der für die Seinen das Beste will, aber vor Gewaltakten nicht zurückscheut. Sein Sohn Carlos ist ein begnadeter Break-Dancer, will unbedingt Fußballer werden, aber der Vater, der einmal in einer Ballettvorstellung von den hübschen Mädchen hingerissen war, zwingt ihn, unter härtesten Bedingungen eine Tänzerausbildung zu machen. Er büxt immer wieder aus, schwänzt den Unterricht, wird von der Schule gewiesen, doch der Vater gibt nicht nach. Widerwillig absolviert er den Unterricht, der Vater prügelt ihn fast zu Tode, aber seine exzeptionelle Begabung steht außer Frage und beim Tänzerwettbewerb von Lausanne 1990 ertanzt er die Goldmedaille. Es ist der Beginn einer märchenhaften Karriere, die ihn alles andere als glücklich macht. Jetzt reißen sich die Kompanien der Welt um ihn, die Mädchen liegen ihm zu Füßen – aber er will eigentlich immer nur nach Hause, zu seiner Familie, ist von Hass auf seinen Vater erfüllt, er bleibt ein hoch intelligenter kubanischer Junge, ohne politische Interessen, weder ein Fanatiker noch ein Oppositioneller des Castro-Regimes. Seine Erfolge, seine Sexeskapaden (normal – wenn man deren Häufigkeit noch normal nennen kann), zählen nichts gegen seine emotionale Leere, seine Schmerzen und Verletzungen und sein unstillbares Heimweh.

Man verschlingt seine Story, ist immer wieder gerührt über die Preisgabe seiner intimsten Gefühle, seine Anhänglichkeit – aber ich nehme ihm nicht ab, dass er die detaillierten Beobachtungen und Reflexionen seiner frühen Kindheit, die Naturschilderungen, die vielen wörtlichen Zitate selbst verfasst hat – und vermute, trotz seiner ausgeprägten Intelligenz, einen Ghostwriter hinter seinen brillanten Schilderungen. Und wundere mich, wie ein so angesehener Verlag wie Schott/Mainz auf die Idee kommen konnte, ein Buch über diesen bei uns nur eingeweihten Ballettkreisen bekannten Tänzer herauszubringen. Wohl in der Hoffnung, ihn zu einem neuen Nurejew zu stilisieren. Und war dann doch am Schluss sprachlos, als der Vater „mit Tränen in den Augen, sich zu mir herüber beugte und mir ins Ohr flüsterte: ‚Der glücklichste Tag meines Lebens war der Tag, an dem du geboren wurdest.‘ Eine dicke Träne glitt ihm die Wange herab: ‚Und dass du mir das nie vergisst, mein Sohn!‘“.

Das Wiesenthal-Buch, dessen Untertitel doch wohl etwas zu großsprecherisch die „Renaissance einer Tanzform“ verheißt, stammt von Susanne Mundorf, Leiterin einer Wiesenthal-Nachfolgegruppe aus Gauting bei München, die sich eloquent um die Konservierung und Weiterentwicklung des Wiesenthal-Erbes große Verdienste erworben hat, und die im zweiten Teil, unterstützt von zahlreichen aussagekräftigen Fotos, den Wiesenthal-Lehrplan analysiert und dessen Übungen beschreibt. Es folgen dann noch Stichworte zur „Wiesenthal-Terminologie“, ein Verzeichnis der Wiesenthal-Choreografien mit dezidierten Angaben über die Musik, die von ihr selbst erarbeiteten Choreografien im Wiesenthal-Stil und biografische Notizen über die Autorin, ihre Mitarbeiterinnen und Tänzerinnen: also alles, was uns an heutigem Wissen über diese Ikone der Wiener Walzerkultur zur Verfügung steht.

Die Acosta-Autobiografie, die mit Anekdoten aller Art gespickt ist, hat in ihrem Mittelteil eine sechzehnseitige Foto-Sequenz, die immerhin ahnen lässt, was es mit dem Charisma dieses inzwischen auch als Show-Star und Entertainer auf den Bühnen der Welt gefeierten kubanischen Jungen aus der Vorstadt von Havanna auf sich hat. Übrigens ist jetzt auch eine englische Ausgabe der überarbeiteten Pina-Bausch-Monografie von Norbert Servos erschienen, übersetzt von Stephen Morris: „Pina Bausch Dance Theatre, Photographs by Gert Weigelt, bei K. Kieser, Munich 2008, ISBN 978-3-935456-22-7, 278 Seiten, 30,- Euro.

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