Bittersüßer Abschied
Ben Van Cauwenbergh verlässt nach 16jähriger Intendanz das Aalto Ballett Essen
In Essen versteckt Ben van Cauwenbergh einen Pulk von Jungchoreografien zwischen zwei richtigen Stücken
Die Fingerübungen von Jungchoreografen finden – sofern ihnen ihre Chefs überhaupt Gelegenheit geben, sich öffentlich auszuprobieren – üblicherweise im Studio oder im Kleinen Haus statt, wo sie naturgemäß auf ein recht überschaubares Interesse stoßen. In Essen allerdings hat sich Ben van Cauwenbergh, der dort seit Spielzeitbeginn das Aalto Ballett Theater leitet, etwas ziemlich Raffiniertes einfallen lassen, um seinen Jungchoreografen zu einer größeren Öffentlichkeit zu verhelfen. Er hat ein ganzes Fuder von Erstlingswerken unter einem ambitionierten Sammeltitel (dem Namen des ägyptischen Schöpfergottes Ptah) zusammengefasst und im Opernhaus in einem ganz normalen Premierenabend zwischen zwei richtigen Stücken versteckt: „Home and Home“ von Johan Inger und „This Is Your Life“ von Young Soon Hue.
Die Choreografie von Inger, der nach Jahren beim Nederlands Dans Theater von 2003 bis 2008 an der Spitze des Stockholmer Cullberg-Balletts stand, hat vor zwei Jahren schon einmal zum Repertoire des Aalto Balletts gehört. Jetzt hat die Koreanerin Hue, die das Werk auch damals schon betreute, „Home and Home“ neu einstudiert; wohl als Dank dafür durfte sie sich in Essen erstmals auch als Choreografin vorstellen. Inger lässt in „Home and Home“ eine junge Außenseiterin, wie schon vor zwei Jahren die zierliche Koreanerin Yoo-Jin Jang, so virtuos wie vergeblich um die Aufnahme in eine ihr feindlich gesinnte Gesellschaft kämpfen. Zu einer musikalischen Collage von Bach bis Bogdan Raczynski verschreibt er seinen neun Tänzern, alle in Röcken, jene skurrilen, ständig ins Surreale entgleisenden Bewegungen, wie sie auch sein großes Vorbild Mats Ek liebt. Es handle sich um „ein Werk im Grenzgebiet zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, Traum und Wirklichkeit, Vorder- und Rückseite, Sicherheit und Ungewissheit“ hat es der Choreograf selbst charakterisiert und dabei nur vergessen, dass es sich auch zwischen Kunst und Kitsch nicht ganz eindeutig entscheiden kann. Denn außer der Außenseiterin und denen, die sie herumschubsen, über den Boden schleifen oder sonstwie malträtieren, spielt auch eine weiße Topfblume, die von rechts nach links an der Bühnenrampe entlang wandert, keine geringe Rolle. Man wartet darauf, dass das Stück zu Ende ist, wenn die Blume ganz links angekommen ist, und so ist es denn auch; nur dass „Home and Home“, während die Außenseiterin tot an einer der verschiebbaren Stellwände hängt, für eine lange Minute von vorn beginnt.
Young Soon Hues hat sich als Rahmen für „This Is Your Life“ eine Fernseh-Talkshow gewählt, bei der ein Moderator (Emil Wedervang Bruland) dem Publikum, das er direkt anspricht, verschiedene menschliche Schicksale präsentiert: das angeblich perfekte Ehepaar (Alicia Olleta/Oleksandr Shyryayev), das beim ersten Auftauchen einer neuen Frau (Yulia Tsoi) auseinanderbricht; den oberschwulen Inhaber eins Schönheitssalons (Cleiton Diomkinas), der den Frauen der Show seine Dienste anbietet; einen unglücklichen Geschäftsmann (Denis Untila), der sich von seinen Eltern hat überreden lassen, seinen Traumberuf Schauspieler aufzugeben. Zu Musiken von Jacob Gade, Henri Mancini, Sexteto Mayor und immer wieder Astor Piazzolla wirft man sich in virtuose komische Showtänze, in denen vor allem die Männer (Untila, Diomkinas, Wataru Shimazu) brillieren: ein amüsantes, wenngleich nicht einen Millimeter unter die Oberfläche hinabreichendes Spektakel.
Im Nachhinein freilich will es scheinen, als sei Hues Stück im weiteren Sinn das Stilvorbild für das zentrale Ereignis des Programms gewesen: die aus acht Einzelteilen gefügten, unter dem Titel „Ptah“ zusammengefassten, von den jeweiligen Autoren im Video angesagten ersten Arbeitsproben von Ensemblemitgliedern Cauwenberghs und einigen Gästen. Zu sehen waren drei Soli, zwei Pas de deux, ein Männer-Trio und zwei Gruppen-Stückchen zwischen fünf und zehn Minuten Dauer. Viel choreografisches Talent wird dabei nicht sichtbar. Zwar ist alles handwerklich sauber gearbeitet. Aber es zielt, mit wenigen Ausnahmen, eher auf tänzerische Virtuosität als auf ästhetische Durchdringung des tänzerischen Materials; ein paar pathetische Ausrutscher in den choreografischen Kitsch sind nicht zu übersehen. Der Brasilianer Cleiton Diomkinas schreit nach „Erlösung“ aus schrecklichem, undefiniertem Leiden. Der Ägypter Nwarim Gad möchte der ganzen Welt durch Muskelspiele Frieden bringen. Der Türke Deniz Cakir lässt drei Kollegen munter herumhüpfen. Die Französin Adeline Pastor spreizt sich in Bodennähe und auf Spitze. Die in Hagen engagierten Brasilianer André Baeta und Marcelo Morales werfen sich in einen unerotischen Männer-Pas-de-deux. Der zum Kieler Ensemble gehörende Albaner Tenald Zace entwarf für zwei Essener Russen ein konventionelles Boy-gets-girl-Duo. Nur die Brasilianerin Michelle Yamamoto und der Moldawier Denis Untila, beide Gruppentänzer, machten neugierig auf ihre künftige Entwicklung. Die eine führt drei Frauen (mit Taciana Cascelli) an der Spitze und drei Männer durch ein geheimnisvolles Ritual. Der andere verwickelt eine (von dem virtuosen Wataru Shimazu angeführte) Fünfergruppe in fantasievolle Tanzspiele – das eine wie das andere klar strukturierte Arbeiten, in denen die Tanztechnik mit dem Ästhetischen eine schöne Balance hält.
Ein Programm aus zwei mehr als halbstündigen und acht kurzen Choreografien: dass das keinen kurzen Abend ergibt, lässt sich denken. Er war aber immerhin kurzweilig, wenn man seine Ansprüche nicht zu hoch geschraubt hatte, und er war, vor allem, durchgehend vorzüglich getanzt. Dem technischen Standard des Aalto Ballett Theaters Essen stellt der angebliche Dreiteiler das beste Zeugnis aus.
Link: www.aalto-theater.de
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