Mein Kampnagel Sommerfestival 2010
Ein Blog von Bettina Preuschoff
Mittendrin statt nur dabei! Tanznetzkritikerin Lena Zieker wechselt die Seiten und wird als Mitarbeiterin des Tanzkongresses in Hamburg in einem Blog von ihren subjektiven Eindrücken berichten. Immer aktuell lässt sie uns am Geschehen auf Kampnagel teilhaben, bietet einen Blick hinter die Kulissen und berichtet von Gesprächen und Erlebnissen am Rande des Kongresses.
5.11.2009 - Heute geht es endlich los!
Donnerstag 10:00 Uhr - Das Herz schlägt schneller. Heute geht es endlich los! Noch sind die Hallen auf Kampnagel leer. Die Bühnen und Vortragssäle, die Diskussions- und Übungsräume scheinen gespannt zu warten. Überall im Foyer stehen weiße Sitzhocker, die riesige Infowand ist schon behängt. Überall wird noch etwas gewerkelt. Bei der Vorstellung, dass hier bald rund 1000 Teilnehmer des Tanzkongresses einfallen und die Räume mit Leben füllen, fängt es an zu kribbeln. Ja, es kribbelt bei uns allen, glaube ich. In den letzten Tagen ist die Spannung jeden Tag etwas mehr gestiegen. Ich habe fleißig Schilder verteilt, damit jeder den richtigen Raum zum richtigen Vortrag findet, Stühle und Bänke wurden gerückt, Plakate geklebt und Kongressmappen vorbereitet. In unserem kleinen Büro wird eifrig getippt, gedruckt und telefoniert. Und immer wieder ist die Runde des Tanzkongresses vor diesem großen, bunt bedruckten Papier zusammengekommen, auf dem alle Veranstaltungen markiert sind.
Das Programm ist unglaublich umfangreich. Hinter jeder Tür der ungefähr zwölf Räume auf dem Kampnagel-Gelände ist in den nächsten Tagen Tanz zu sehen, zu hören und zu erleben. Gerade habe ich die allerersten Teilnehmer im Kassenhaus entdeckt, die sich auf all die spannenden Veranstaltungen freuen können. Auch bei ihnen scheint die Vorfreude groß zu sein, denn die Eröffnungsveranstaltung beginnt ja eigentlich erst um 19:30 Uhr. Alain Platel und seine Truppe Les Ballets C de la B sind gestern Abend schon gelandet. Sie werden heute Abend ganz exklusiv einen Ausschnitt einer Work-in-progress-Arbeit zeigen. Aber schon vorher erobert der Tanzkongress die Stadt Hamburg mit dem Projekt „A wall is a screen“. Ein Videoprojekt, das sich durch die ganze Stadt bewegt und dem die Zuschauer folgen können, bevor sie dann pünktlich zum Begrüßungssekt hier im Kampnagelfoyer landen. Es kribbelt und das Herz schlägt schneller. Heute geht es endlich los!
6.11.2009 - Ach, du auch hier? Wie schön!
Donnerstag 19:00 Uhr – Hamburg. Es regnet. Teilnehmerströme kommen pitschnass im Foyer auf Kampnagel an. Sie schleppen Ziehkoffer und Rucksäcke mit und schon in den ersten Warteschlangen hört man immer wieder den freudigen Ausruf: „Ach, du auch hier? Wie schön!“ Feste Umarmung, fröhliches Geschnatter. Auch ich habe schon die ersten bekannten Gesichter entdeckt. Ehemalige Studienkollegen, Freunde, Kollegen. Es mutet in manchen Momenten fast wie eine Art Familientreffen. Leider habe ich in den ganzen Vorbereitungen zur Eröffnungsfeier keine Zeit mehr gefunden, der Videoperformance „A wall is a screen“ zu folgen, die eine Stunde lang vom Jungfernstieg über verschiedenen Stationen durch die Hamburger Innenstadt gezogen ist. Insgeheim war ich für einen Moment froh, nicht in das graue Nass zu müssen. Am Ende war ich dann aber doch etwas traurig, denn was ich davon erzählt bekommen habe, klang richtig gut. Rund 100 Leute haben zugesehen, wie kurze Videoclips über die Choreografien der Großstadt an verschiedene Wände im öffentlichen Raum projiziert wurden. Auch diese Zuschauer sind inzwischen getrocknet. Die nassen Mäntel sind abgelegt. Sekt wird gereicht, überall im Foyer unterhalten sich die Leute angeregt und warten auf das Eröffnungsprogramm. Beim Kongressteam steigt derweil Aufregung und Vorfreude deutlich an. Die letzten Absprachen werden getroffen und ich darf gleich die Ansage machen, dass sich die Leute auf ihre Plätze begeben sollen. Hoffentlich bekomme ich selbst auch noch einen ab.
6.11.2009 - Auftakt gelungen
Donnerstag 23:00 Uhr – Ich stehe draußen im Foyer. Gerade läuft die Performance von Ligna in der Halle K6 und ich bin kein bisschen traurig darüber, dass ich nicht mit dabei bin. Der Grund dafür ist eine große Leinwand im Foyer vor der Halle, auf die die Performance aus der Vogelperspektive in Echtzeit übertragen wird. Und das ist meiner Meinung nach die viel spannendere Sicht auf die Sache. Denn in der Halle bewegen sich die Kongressteilnehmer auf Anweisungen, die sie über ein kleines Radiogerät und Kopfhörer bekommen und das sieht wirklich toll aus. In einem anderen Raum spielt eine Band. Es gibt Suppe und Wein. Dass die Stimmung so gut ist, liegt sicher auch an der gelungenen Eröffnungsveranstaltung, für die ich tatsächlich noch einen Platz ergattern konnte.
Ein besonderes Highlight: die teilweise witzig-ironische Begrüßungsrede von Bundestagspräsident Norbert Lammert. Ihm sei das Risiko bewusst, das er mit einer solchen Eröffnungsrede eingehe, es sei ihm aber wichtig, sich an dem „nötigen wie möglichen Versuch zu beteiligen, dem Tanz die breite Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er verdient und braucht.“ Er findet aber auch ernste Wort und bringt die harte Tatsache auf den Tisch, dass Tanz die gefährdetste Kunstform von allen ist und redet auch die Situation der freischaffenden Tänzer nicht schön, die sich oftmals am Lohnniedrigsegment bewegen. Nun sei es wichtig, dass aus Tänzplänen Konzepte werden und aus den Konzepten Strukturen.
Auch die anderen Redner machen sich für den Tanz stark und bekräftigen ihre Versprechen, sich auch nach dem Auslaufen des Tanzplans weiter für den Tanz einsetzten zu wollen. Schon während der letzten Rede von Hortensia Völckers betreten die Tänzer von Les Ballets C de La B die Bühne. Die Künstlerische Direktorin der Kulturstifung des Bundes kündigt Alan Platels neues Stück „Out of Context“ an, einen Ausschnitt dieses Work-in-progress-Stückes, das eigentlich erst im Januar aufgeführt wird. Ein passender Rahmen für den Tanzkongress, der ja, wie Hortensia Völckers so treffend sagt, ein Arbeitstreffen und kein Festival ist.
Diese Tatsache vergesse ich während der Vorstellung allerdings sofort, so sehr begeistern mich Les Ballets C de la B. Mit Unterwäsche bekleidet und in rote Decken gehüllt tanzen sich die acht Tänzer wie aus Kokons frei, mit unglaublicher Energie, schnellem Tempo und erstaunlicher Beweglichkeit. Sie zitieren Popsongs in ein Mikrofon, wechseln von witzig zu ernst. Und in ihren intensiven Bewegungsabfolgen gibt es ständig etwas Spannendes zu entdecken. Moderner Tanz wie ich ihn mir wünsche. Kein Wunder, dass alle um mich herum so zufrieden erscheinen. Ich selbst werde mich nun auch noch mal unters Feier-Volk mischen, wenn auch nicht zu lange, um morgen wieder fit zu sein, wenn die ersten Vorträge beginnen.
7.11.2009 - Zu früh für nackte Menschen?
Freitag 12:00 Uhr - Etwas müde starte ich nach der Eröffnungsfeier in den ersten richtigen Kongresstag auf Kampnagel. Schon morgens um neun Uhr waren die ersten Teilnehmer zum Warm-up-Training da. Respekt, sage ich, um diese Uhrzeit war mir eher nach Kaffee als nach Bewegen. Immerhin habe ich es noch geschafft, einen Teil der ersten Lecture-Performance von Deufert und Plischke zu sehen, die beinahe in völliger Dunkelheit stattgefunden hat. Nur ein kleiner Lichtstrahl fließt quer über die Bühne und der Künstlerzwilling springt, nackt wie Gott ihn schuf, auf und ab und stellt dabei Fragen über Tanz und Komplizenschaften.
Leider gibt es für mich immer viel im Foyer zu tun, so dass ich nur schlaglichtartig in die einzelnen Veranstaltungen reinspicken kann. Aber immerhin habe ich heute Vormittag schon in einer Gesprächsrunde mit Alain Platel erfahren, dass er einen Hund hat, den er auch gerne an die Tänzer seiner Kompanie verleiht, damit sie mit ihm spazieren gehen. Nicht weil er selbst keine Lust dazu hat, sondern weil sie so Zeit zum Nachdenken über verschiedene Dinge haben und das, findet er, ist genauso Teil der Arbeit eines Tänzers, wie sich auf einem Tanzboden zu bewegen.
Und er erzählt er weiter, dass er auch schon Proben abgebrochen hat und stattdessen mit seinen Tänzern ins Kino gegangen ist. Wer am gestrigen Abend auf dem Kongress die Vorstellung von Alan Platels Truppe gesehen hat, wird auch gespürt haben, dass da ein ganz besonderes Verhältnis zwischen den Tänzern besteht und das Gespräch mit dem Chef der Kompanie erklärt dieses Gefühl jetzt auch.
Zwischenzeitlich versuche ich die Probleme der Kongressteilnehmer zwischen den Räumen zu lösen und sehe mich plötzlich mit der ja gar nicht so abwegigen Frage konfrontiert, ob es hier auch einen Raum zum Tanzen gibt. Sie würde sich gerne etwas bewegen. Die ersten Vorträge scheinen also schon so inspiriert zu haben, dass sie in Bewegung umgesetzt werden wollen. Und ich merke einmal mehr. Dieser Kongress ist etwas ganz Besonderes.
7.11.2009 - Toolboxes und andere Entdeckungen
Freitag 15:00 Uhr - Die Mittagspause ist beendet und ich habe mich in die Toolbox von Bertha Bermúdez und Chris Ziegler geschlichen. Toolboxes sind deshalb spannend, weil man da meist mitmachen, ausprobieren oder Tanzen kann. Gerade haben die Leute Schuhe und Strümpfe ausgezogen und bewegen sich zu Grafiken und Sounds je nach Empfinden. Total spannend zu beobachten, wie unterschiedlich die Kongressbesucher die Bilder und Geräusche, die an die Wand projiziert werden, für sich in Bewegung umsetzten. Aber ich habe keine Zeit mehr und muss leider schon wieder weiter, bevor wir zum Bewegungsmodul zwei kommen.
An der Kopfhörerausgabe für die Simultanübersetzung bekommen die Mitarbeiter ab und zu einen eigenen kleinen Vortrag über das eben Gehörte von den Teilnehmern, die aus den Vorträgen kommen. Gerade äußerte sich eine Kongressteilnehmerin begeistert über einen Vortrag, gerade weil sie es so erfrischend findet, dass auf diesem Kongress das Themenfeld nicht so eng angelegt ist. Doch es geht auch ganz klassisch. Zum Beispiel in der Masterclass mit Ballettschülern der John-Neumeier-Schule aus Hamburg. Ich selbst habe leider verpasst, wie sich die Jungs an der Ballettstange abgemüht haben, doch eine Bekannte hat dabei erfahren, dass die männlichen Ballettschüler am liebsten zu James-Bond-Musik trainieren. In den Vortragsräumen finden sich im Anschluss immer kleine Trauben zusammen, die weiterdiskutieren und irgendwie hat man das Gefühl, wenn nur einige der Ideen, die sich hier entwickeln umgesetzt werden, dann kann sich die Tanzszene auf schöne Entwicklungen freuen.
7.11.2009 - Und jetzt noch in die Tanzvorstellungen
Freitag 23:00 Uhr – Die Kongressteilnehmer sind teilweise etwas übermotiviert in den ersten langen Kongresstag gestartet. Irgendwie verständlich, natürlich will man hier alles mitnehmen, was es gibt, doch kurz bevor die begleitenden Tanzvorstellungen um 19 Uhr beginnen, treten die ersten Müdigkeitserscheinungen auf. Ein Glück gibt es hier Kaffee rund um die Uhr. Am Ende sind die Vorstellungen dann doch genau der richtige Abschluss für so einen informationsreichen Tag. Gute Unterhaltung, die gleichzeitig auch die Vorträge des Tages auf ihre Art und Weise reflektieren.
Ich nutze die erste Vorstellungsrunde trotzdem, um mich mit Obst vollzustopfen und mich dann auf „Lutz Förster“ von Jérôme Bel zu freuen, obwohl es schwierig ist, eine Entscheidung zu treffen, da zeitgleich auch die Urraufführung von "Logobi 04" läuft. Ein Stück, das wie die Faust aufs Auge, oder in diesem Fall besser auf den Tanzkongress passt, wie ich mir später erzählen lasse. Denn Gintersdorfer und Klaßen reflektieren in diesem Stück die verschiedenen kulturellen Sichtweisen auf Tanz und Tanztechnik und das auf äußerst witzige Art und Weise.
In meiner Vorstellung von Lutz Förster wird auch viel gelacht und am Ende gibt es sogar stehende Ovationen für den Tänzer, der Jahrzehnte lang in der Kompanie von Pina Bausch getanzt hat. Er erzählt in dem Stück, das seinen Namen trägt, seine Geschichte als Tänzer, der bei Pina Bausch auf der Bühne entdeckt hat, dass er nicht nur gerne tanzt, sondern auch gerne spricht. Dass er dafür auch Talent hat, zeigt dieser Abend ganz besonders. Tanzschritte, die wie Erinnerungen zu seinem Leben gehören, lässt er nur am Rande einfließen, sonst ist er einfach ein hervorragender Erzähler. Die witzigen Momente sind bei ihm gleichzeitig gebrochen mit Melancholie, denn wenn er von Gesprächen mit Pina Bausch spricht und sie dabei mit dünner Stimme in ihrer unverwechselbaren Art imitiert, bleibt der Gedanke an die eben erst verstorbene Tanzikone nicht aus. Ein für mich ergreifendes Stück, das auch wie ein Schlaglicht einen Einblick in das umfassende Werk von Pina Bausch gibt, erzählt von der charismatischen Persönlichkeit Lutz Förster.
Jérôme Bel, der zum anschließenden Publikumsgespräch mit auf die Bühne kommt, erzählt denn auch, dass er mit solchen Stücken und Geschichten wie der von Lutz Förster versuchen will, „the power of theater“ für das Publikum sichtbar und verständlich zu machen. Für diesen Abend und für mich ist es gelungen und damit kann ich auch ganz erfüllt von Kunst schlafen gehen.
8.11.2009 - Muffin und Wigman
Samstag 11:00 Uhr – Für Frühstück ist mal wieder keine Zeit. Also nur schnell einen Schokomuffin auf die Hand und schnell mal in die Halle huschen, in der Fabian Barba über seine Mary-Wigman-Rekonstruktion spricht. Fabian Barba ist ein junger Tänzer und einer der drei Residenzchoreografen am Choreografischen Zentrum K3 in Hamburg. Sein Stück „A Mary Wigman Dance Evening“ war gestern Abend im Rahmen des Kongresses gezeigt worden und nun sind natürlich alle gespannt, was er über die Hintergründe zu erzählen hat. Wir erfahren zum Beispiel, dass der erste Anstoß aus einer Kritik entstanden ist, die er über einen Tanzabend mit Mary Wigman im Globe Theater gelesen hatte, in der relativ detailliert beschrieben wurde, wie ihr Auftritt auf der Bühne ausgesehen hat. Aus solchen Kritiken, Fotos und einigen Videoaufzeichnungen hat er neun kurze Solos entwickelt, die er in original anmutenden Kostümen, also langen wehenden Kleidern präsentiert.
Als ich vor einigen Tagen das Stück angesehen habe, saß direkt hinter mir eine pubertierende Schulklasse. Und nach dem dritten Stück kam von hinten die kicherige Frage: „ist das jetzt eigentlich ein Mann oder eine Frau auf der Bühne?“ Und ohne es zu wissen hatte die besagte Schülerin Fabian Barba damit wahrscheinlich das größtmögliche Kompliment ausgesprochen. Denn tatsächlich sind seine Bewegungen so präzise an Mary Wigman angelehnt, dass ich, die ich Wigman auch nur aus Videoausschnitten in schlechter Qualität kenne, das Gefühl hatte: ja, so hat ein Wigman-Abend damals ausgesehen.
Und Fabian Barba hat nicht nur aus dem Bewegungsmaterial von Mary Wigman geschöpft, sondern auch die Form der damaligen Zeit gewahrt, indem er vermutlich aus einem damaligen Programmheft die Angabe entnommen hatte: „Wenn gewünscht, können im Anschluss an die Vorstellungen zwei der gezeigten Solos wiederholt werden.“ Und da das Publikum begeistert applaudiert, werden zwei Stücke wiederholt. Eine etwas ungewohnte Situation für heutige Zeiten, aber irgendwie spannend.
Ich ruhe meine inzwischen müde gelaufenen Beine aus und sehe lieber den anderen beim Tanzen zu. Milli Bitterli vermittelt in ihrer Masterclass ihre Art der zeitgenössischen Körperarbeit. Mit knallrosa Strümpfen räkelt sie sich zusammen mit ungefähr 14 Teilnehmern auf dem Tanzboden, während wir auf der Tribüne zuschauen dürfen. Sprechen scheint bei Milli Bitterli zum Tanzen dazuzugehören, denn sie gibt die Anweisung zu sprechen, wenn einem danach ist und auch auf keinen Fall eine Übung mitzumachen, wenn sie einem nicht gefällt. Und während sie mit der Gruppe langsam in Bewegung kommt, stellt sie fest: „So viele Menschen sagen immer, es ist so schwer zu tanzen. Ich finde es ist genau umgekehrt. Es ist so schwer nicht zu tanzen, findet ihr nicht? Wollt ihr jetzt nicht auch tanzen?“ Irgendwie schon, aber der Vortrag von Sasha Walz & Guests in dem kleinen angrenzenden Kino klingt eben auch gut und deshalb lasse ich es sein.
Leider steckt Sasha Walz mitten in der Arbeit in Rom fest und kann nicht dabei sein, aber Jochen Sandig von Sasha Walz & Guests ist gekommen, um über die Archivierung von Tanz zu sprechen. Es gibt so viele großartige zeitgenössische Stücke meint er, die nicht verschwinden dürfen, weil auch so viel Zeit und Energie in sie gesteckt wurde. Er erzählt von seinen Kollegen am Sprechtheater, deren Stücke im Vergleich zum Tanz nicht einfach verschwinden, wenn die abgespielt sind. Ihnen bleibt immer noch der Text. Ist ein zeitgenössisches Tanzstück abgespielt, verschwindet es einfach. Es entsteht ein „artistic vacuum“. wie er es nennt, und das dürfe nicht passieren. Tanztheaterstücke seien wie guter Wein. Sie brauchen ihre Zeit und dürfen nicht vorher schon verschwinden. Warum sollte es eigentlich nicht auch zeitgenössische Repertoire-Kompanien geben, wie im klassischen Ballett? Eine spannende Idee, die natürlich die Frage aufwirft, welche Stücke sollten das dann sein, die mit aufgenommen werden sollten? „Sacre“ von Pina Bausch sicherlich, einige andere und hoffentlich auch Sasha, ergänzt Jochen Sandig, und mit dieser Hoffnung verlasse ich den Vortrag auch schon wieder.
8.11.2009 - Mittagspause mit dem Tanzplan München
Samstag 14:00 Uhr – In der Kaffeeküche des Choreografischen Zentrums auf Kampnagel sitzt jede Stunde ein anderer Vertreter der Tanzpläne aus Deutschland und lädt zum Kaffee ein. Dieses Angebot nehme ich gerne an. Immerhin ist Mittagspause. Als ich ankomme, sitzen gerade zwei Mädels bei der Vertreterin des Tanzplanes aus München und unterhalten sich angeregt. „Da mussten wir erst nach Hamburg fahren, um uns kennen zu lernen“, höre ich nebenbei raus und bekomme am Rande noch mit, dass die beiden Tanzprojekte in Regensburg und Straubing betreuen und dass es dort mit der Förderung immer schlecht aussieht. Man tauscht Kontaktkärtchen und Einladungen zu Premieren von integrativen Tanzprojekten. Ich tausche mich dann noch etwas über die Fortführung des Tanzplans in München aus und trinke dann meinen Kaffee, während ich etwas durch die K3-Hallen schlendere, in denen sich alle Tanzplan-Projekte in Deutschland mit Videos auf Monitoren präsentieren.
8.11.2009 - Angstzustände und Party
Samstag 23:30 Uhr – Der Kongress tanzt. Nach den letzten Abendvorstellungen ist Party angesagt und nachdem alle Teilnehmer den ganzen Tag so viel Information in sich aufgesaugt haben, tut es jetzt gut, sich etwas auszuschütteln. Aus dem Stück von Monica Antezana „The G String Theorie“ sind vorher schon wieder alle Leute kichernd und gut gelaunt gekommen. Eine Kollegin am Tresen kann gar nicht aufhören zu wiederholen, wie lustig und „klasse“ das war. Vielleicht kann ich morgen Abend ja selbst noch mal zuschauen.
Für den heutigen Abend habe ich mir nur die Vorstellung von Richard Siegal vorgenommen. Der Kontrast könnte nicht größer sein, denn parallel zu seiner multimedialen Tanzperformance „Homo Ludens“ läuft auch wieder „A Mary Wigman Evening“ - das Stück, in dem Fabian Barba einen Tanzabend rekonstruiert, wie er in den 30er Jahren stattgefunden hätte. Für mich gibt es also statt Kronleuchter an der Decke nun Videoinstallation auf Leinwand.
Richard Siegal und Kenneth Flak erscheinen in „Homo Ludens“ auf der Bühne wie zwei freche Lausbuben mit ihren Skatermützen, die ihnen ständig ins Gesicht oder vom Kopf rutschen, während sie sich mit ihrer äußerst eleganten und spielerischen Bewegungsfolge über die Bühne bewegen. In einer scheinbar nicht enden wollenden Kettenreaktion beginnen sie immer mit einem abwechselnden Schulterklopfen das nach der „Machst du A (if), mache ich B (then)“-Methode in einer akrobatischen Abfolge weitergeführt wird.
Nach dem Körperspiel geben sie sich auf lustige und flapsige Art großen philosophischen Fragen hin, die sie sitzend an zwei Tischen in Mikrophone sprechen. „Ist die Sonne eigentlich wirklich über uns?“ „Ja sicher, wir schauen doch hoch, wenn wir in die Sonne schauen.“ „Aber was ist in der Nacht?“ „Da ist sie auf der anderen Seite der Welt.“ „Aber dort schauen die Menschen doch auch nach oben in die Sonne und nicht nach unten.“ Die scheinbar großen Fragen der Menschheit werden immer wieder gebrochen durch sinnfreie Diskussionen über zuckerfreien Kaugummi oder die Überlegung, ob nun eher ein Hund oder eine Kakerlake dem Menschen ähnlicher sei. Über allem steht dabei das Thema der Angst, das unterschwellig auch durch den Cellisten Wolfgang Zamastil auf der Bühne hörbar gemacht wird.
Eine Kollegin berichtet mir später, dass sie die Angst zum Ende des Stücks richtig ergriffen hat. Ich muss gestehen, dass ich wohl zu müde war, um mich richtig auf das Geschehen einzulassen, Angst habe ich jedenfalls nicht gespürt. Eher eine seltsame Traurigkeit darüber, dass morgen schon wieder alles zu Ende geht. Doch noch ist es nicht vorbei und ich beginne schon mal die nötigen Vorbereitungen für morgen zu treffen. Tesafilm her und ab dafür.
8.11.2009 - Mathematik mit Neumeier: Tanz + Musik macht nicht zwei, sondern drei!
Sonntag 10:30 Uhr - Heute Vormittag erobern die Neumeier-Fans den Tanzkongress. Normalerweise finden die Tanzwerkstätten des Hamburger Ballettchefs im Hamburger Opernhaus statt. Doch wenn der Tanzkongress schon mal in der Stadt tagt, dann kommt auch das Hamburger Ballett vorbei. Und so werden Ballettstangen und Tanzboden auf Kampnagel geschleppt und die 40 Kompanie-Mitglieder mitsamt Pianisten und Ballettchef finden sich auf dem Kongressgelände ein. Das klassische Ballett macht einen Ausflug an den Ort, der normalerweise dem zeitgenössischen Tanz gehört. Der Tanzkongress macht‘s möglich.
Bevor die Ballettwerkstatt los geht, besuche ich noch schnell die Veranstaltung, in der das Who-is-Who der Tanzwissenschaftler versammelt ist. Die wichtigsten Vertreter der Tanzwissenschaftsstudiengänge aus Deutschland und dem Ausland sitzen zusammen und tauschen sich darüber aus, wie diese Studiengänge funktionieren und wie ihre Zukunft aussieht. Bei einem scheint man sich einig: dass selbst die theoretisch angelegten Tanzwissenschaftsstudiengänge immer mit der Praxis zu tun haben müssen. Besonders gut gefällt mir die Aussage von Gabriele Brandstetter, die seit 2007 den neuen Studiengang der Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin leitet: Es geht nicht darum, die Theorie des Studiums auf die Praxis anzuwenden, sondern die Theorie an sich ist schon als Praxis zu verstehen. Weiter kann ich den Diskurs nicht verfolgen, denn sonst verpasse ich den Anfang von John Neumeier.
Praxis und Theorie ist auch das Grundprinzip der Ballettwerkstätten von John Neumeier. Mit seiner bekannt charmanten, unkomplizierten Art legt er seine Ansichten zum Zusammenspiel von Tanz und Musik dar und lässt seine Kompaniemitglieder anhand getanzter Beispiele darstellen, wie diese aussehen. So lernen wir, dass die Musik den Tänzern hilft, auch an einem Sonntag morgen wie diesem, an dem sie eigentlich lieber schlafen würden, ihren Körper zum „Artikulieren“ zu bringen. Wir erfahren, dass im Training das Klavier mit seiner Musik wie eine Art Verkehrspolizist funktioniert, die dafür sorgt, dass alle Tänzer gleichzeitig dasselbe machen. In diesem Fall steht die Musik in einer „One-To-One-Beziehung“ zur Bewegung. Auf der Bühne, in einer Choreografie sollte es Neumeiers Auffassung nach allerdings nie eine solche „Eins-zu-Eins-Beziehung“ zwischen Musik und Bewegung geben. Der Sinn einer Choreografie darf nie nur die Visualisierung der Partitur sein. Für John Neumeier drückt die Choreografie die Geheimnisse der Musik aus, das was der Choreograf darin hört. Tanz plus Musik ergibt eben in seiner Rechnung nicht zwei, sondern drei. Wenn die Choreografie gut ist!
Sichtbar macht er diese Aussage mit einem Solo aus seinem Ballett „Nijinski“, das wirklich beeindruckend von einem seiner Solisten getanzt wird. Das dieser kein Kostüm trägt, sondern nur Trainingsklamotten trägt, tut der Sache überhaupt keinen Abbruch. Eigentlich will ich jetzt noch mehr sehen, aber mein Magen knurrt. Ich habe das Frühstück völlig vergessen und lasse John Neumeier mit seinem Publikum allein.
8.11.2009 - Zum Schluss ein Tänzchen mit dem Besen
Sonntag 17:00 Uhr - Zum Mittagessen ist sie wieder zu spüren, diese entspannte Atmosphäre überall auf dem Gelände. An jeder Ecke finden sich Grüppchen zusammen, die teilweise wild gestikulierend diskutieren, Kalender zücken oder Ideen austauschen. Manche liegen auch einfach auf den riesigen bunten Kissen in den Entspannungsräumen, schlafen oder unterhalten sich leise flüsternd. Einmal entdecke ich auch ein verliebtes Pärchen, das langsam zu der leisen Musik aus den Lautsprechern tanzt.
Bei der Abschiedsveranstaltung gibt es viel Dank und Blumen für alle, die mitgeholfen haben, den Kongress so erfolgreich zu machen. Am Ende steht ein Film, in dem die Kongressbesucher- und macher ihre Wünsche für den zeitgenössischen Tanz formulieren. Mit der Hoffnung, dass sie sich auch alle erfüllen, geht es weiter zur Besentanzdisko. Das Prinzip ist einfach. Alvin Z. Sudia alias Nummernkerl legt als DJ Musik auf und Julius Deutschbauer verteilt Besen, die als Tanzpartner dienen. So wird das „Auskehren“ als Endpunkt des Kongresses bildlich und praktisch umgesetzt. „Save the last dance for me“ klingt aus den Lautsprechern und die Kongressteilnehmer tanzen einen letzten Tanz. Und so schnappe auch ich mir einen Besen, um mich ein bisschen im Kreis zu drehen und dabei die Eindrücke der letzten Tage noch einmal Revue passieren zu lassen. Rund 3000 Menschen haben sich zu einem Austausch in kreativer und lebendiger Atmosphäre in der Kampnagelfabrik getroffen. Schöner hätte sich der Tanz seinen Kongress wirklich nicht wünschen können.
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