Abschied von Patrick Dupond
Der ehemalige Solotänzer und langjährige Ballettdirektor der Pariser Oper ist verstorben
Mats Eks „Appartement“ mit Tänzern der Pariser Oper bei ArtHaus
Die Ikonen unseres Alltags habe er in den Blickpunkt rücken wollen, sagt Mats Ek im Bonus-Teil von „Appartement“: Die realen Gegenstände um uns bemerken wir kaum; wenn wir sie jedoch wahrnehmen, bekommen sie eine eigene Magie. Das habe ihm die Idee für das 50-minütige Stück gegeben, seine erste Kreation für das Ballett der Pariser Oper, uraufgeführt 2000.
„Appartement“ brilliert wieder mit jenem für Ek typischen Bewegungsgestus zwischen Schlaksigkeit und Groteske, ist bestechend präzis und speist sein anspruchsvolles Vokabular ganz aus der jeweiligen Situation. Meint: Nichts ist zufällig, nichts bloßes Ornament, nichts extraordinärer Einfall ohne Sinnzusammenhang mit dem Vorher und Danach. Auch die Solisten äußern sich höchst lobend über Ek; im Tanz sieht man ihnen an, wie sehr sie den Ausbruch aus ihrem Alltag, den Sprung ins Vergnügen einer zeitgenössischen Ausdrucksweise genießen. Das überträgt sich in der Aufzeichnung aus dem Jahr 2003 spontan auf den Betrachter. Und es beweist: Außergewöhnliche Klassiker sind auch exzellent im modernen Tanz.
Der beginnt vorm bordürenverzierten Vorhang: Zu einem Porzellanbecken, Wanne oder Bidet, hin schlängelt sich eine Tänzerin unter der Bühnenverdeckung durch, begibt sich mit plastischem Vokabular ins Verhältnis zu dem Requisit, streichelt es, setzt sich darauf, hebt, schaukelt es. Vier Tänzer quellen ebenfalls unter dem Vorhang vor, tanzen, reden, lachen mit ihr, bis sie zappelnd das Becken auf sich hat. Da geht das Quartett ungerührt ab. Der Reverenz ans „Badezimmer“ folgt „Fernsehen“, wozu die erste Zwischenkurtine sich hebt: Auf einem flauschigen Sofastuhl räkelt sich da ein Mann, Beulen am Anzug, spricht und schimpft auf das unsichtbare Gerät ein, tanzt ungemein wendig und gelenkig. Ein Black durch Kurzschluss beendet das absurde Solo. „Fußgängerpassage“ jagt sieben Passanten derart furios umher, dass vier auf dem Zebrastreifen in stabiler Seitenlage stranden. Die nächste gelüftete Kurtine erlaubt einen Blick in die „Küche“. Um einen Herd herum liefert sich ein Paar ein Duett voll grotesker Zärtlichkeit. Er begehrt sie, sie stellt den Herd an, verschwindet kurz und übergibt ihm aus der Backröhre – ein geröstetes Baby. Mit dem versinkt er im Bühnenboden. Herd, Sessel, Becken bleiben im spitzen Dreieck.
Dem clownesken Trio „Kinderspiele“ folgt, vor einer Tür hinter der dritten sich hebenden Kurtine, ein intensiver Dialog zwischen vier Paaren, separat oder synchron. Auch die Musiker sind hier zu sehen: Auf einem Podest in der Tiefe des Raums, wie ihn Ek eindrücklich durch die Vorhangkaskade sichtbar gemacht hat, sitzt die schwedische Rockband Fleshquartet aus Streichern, Drummer, Computer und inspiriert den Choreografen sichtbar mit ihrem Gemisch aus Klassik, Jazz, Pop, Folklore. So zum „Marsch der Staubsauger“, den vier Frauen virtuos mit jenem Reinigungsrequisit tanzen und zu einem Ausflug in den Irish Tap Dance nutzen. An Herz, Brust, Bauch fassen sie sich, reden auch auf die Musiker ein. Am „Embryonenduo“ ist besonders witzig der Schluss: Ruckhaft wie Chamäleons mit ihrem Täuschungsmanöver krabbeln die beiden Männer auf allen Vieren ab.
Nicht umsonst nennt sich der nächste Teil „Grand pas de deux“. Was sich zwischen dem Paar abspielt, vom Pochen der Frau an die Tür über das in tänzerischer Bewegung geoffenbarte innere Miteinander zweier Liebender bis zum Huckepack des Abgangs, ist hohe Schule der Choreografie im Dienst einer klar umrissenen Absicht. Noch für winzige Feinheiten ist Platz im Bewegungsgespinst: wie er ihre Spreizlage mit dem Rock zudeckt, sich von ihr in blindem Vertrauen führen lässt, Erotik nicht leugnet; wie Wanne, Herd, Sessel einbezogen werden. Die vorletzte Miniatur gehört ganz der Musik: Als „Schutzbarrieren“ spannen sich jene rotweiß gestreiften Bänder über die Bühne, die Baustellen absperren, für den Klang indes durchlässig bleiben. Mit gut sechseinhalb Minuten ist das Finale der längste der zwölf Teile, gibt in raschen Wechseln nochmals allen Tänzern Gelegenheit zu fulminantem Tanz, bis die drei Zwischenkurtinen eine Raumschicht nach der anderen wieder verschlingen. Nur eine Gestalt bleibt außen vor, der sich fix eine zweite unter dem Vorhang durch hinzudrängelt. Mit dem einsamen Becken im Vordergrund ist fast die Ausgangssituation wiederhergestellt.
Nicht nur an staubsaugende Hausfrauen, die Ek „Soldatinnen des Alltags“ nennt, hat er in „Appartement“ erinnert. Um nicht mehr und weniger als unser aller Leben geht es: in seinem Mix aus ehrlichen und ins Skurrile verrutschten Gefühlen. Bravourös haben sich die 14 Tänzer der Pariser Oper im „Appartement“ eingerichtet: die Étoiles Marie-Agnès Gillot, Clairmarie Osta, José Martinez, Nicolas Le Riche und Kader Belarbi. Ob Premiers oder Corps-Mitglieder – sie alle prägen gleichermaßen das einzigartige Filigranwerk psychologischer Tiefenschau.
Mats Ek: „Appartement“, Opéra national de Paris 2003, ArtHaus Musik 2010, 65 Minuten
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