Wie das Leben im Tanz variiert
Balanchine, Forsythe und Ek, „Thema und Variationen“ beim Semperoper Ballett in Dresden
Balanchine, Nurejew, Forsythe und Ek an der Pariser Oper
Wenige Ballettkompanien weltweit haben die Mittel, zwei große Theater gleichzeitig mit einem unterschiedlichen Repertoire zu bespielen – zu diesen gehört das Ballett der Pariser Oper mit seinen derzeit 150 Tänzern, die regelmäßig in zwei verschiedenen Programmen auf die beiden Pariser Opernhäuser Palais Garnier und Opéra Bastille verteilt werden. Oft bietet diese simultane Bespielung Möglichkeiten zu interessanten Vergleichen – wie auch in diesem April, in dem sich die Kompanie einigen Klassikern des 20. Jahrhunderts widmet.
„Balanchine/ Nurejew/ Forsythe“ lautet der Titel des ersten Abends in der Opéra Bastille – dieser verschweigt allerdings den Namen eines weiteren Mannes, der hinter und in allen gezeigten Choreographien steckt: Marius Petipa. Die Tradition des gebürtigen Marseillers, der in St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ballettgeschichte schrieb, wurde durch einige Ausschnitte aus dem ersten und dritten Akt von Rudolf Nurejews 1983 für das Ballett der Pariser Oper geschaffenen Fassung von Petipas 1898 uraufgeführter letzter Großproduktion „Raymonda“ repräsentiert. Wie bei vielen seiner Neufassungen von Petipa-Klassikern stärkte Nurejew die männlichen Parts und schuf Variationen, die ihren Interpreten höchste technische Virtuosität abverlangen – dies wurde selbst in dieser verkürzten Version deutlich, etwa in der Variation der Henriette, dem Pas de Quatre für vier Männer oder dem von Nurejew hinzugefügten Duo von Bernard und Béranger.
Die Tänzer des Balletts der Pariser Oper meisterten die technischen Schwierigkeiten der Choreografie größtenteils souverän, vor allem die elegante Delphine Moussin und Dorothée Gilbert in ihren mit endlosen Serien von relevés gespickten Variationen der Raymonda und der Henriette. Dennoch wirkten die Ausschnitte vor dem auf einige Kronleuchter reduzierten Bühnenbild etwas verloren, zumal sie ohne Pause auf Balanchines in sich geschlossene „Vier Temperamente“ folgten. Wunderbar klingt hingegen die von Vello Pähn hingebungsvoll dirigierte Musik von Alexandre Glazunov.
George Balanchines „Die vier Temperamente“ zu Musik von Paul Hindemith zeigte, wie man ganz anders als Rudolf Nurejew mit dem klassischen Erbe umgehen kann, wenn auch beide den reinen Tanz stärker in den Vordergrund rücken als Petipa – eine Parallele, die durch den Wegfall des narrativen Kontexts von „Raymonda“ noch unterstrichen wurde. Bühnenbild und Kostüme reduzierte Balanchine einige Jahre nach der Uraufführung auf ein Minimum, das zugleich maximale Sichtbarkeit garantiert, so dass jede Bewegung der Köpfe, Füße oder Fingerspitzen wie durch ein Vergrößerungsglas wahrgenommen wird. Zwar hat man das Stück in dieser Kompanie schon glanzvoller getanzt gesehen, doch gab es einige interessante Rollendebüts (wie das von Mathieu Ganio, subtil und präzise in „phlegmatisch“), und auch Alessio Carbone überzeugte in „sanguinisch“ durch ein erfrischendes Solo.
Der Abend endete mit „Artifact Suite“, einer von William Forsythe 2005 geschaffenen Kurzfassung seines 1984 geschaffenen Stückes „Artifact“. In diesem Werk, in dem eine Art Ballettmeisterin einer homogenen Schar von Tänzern einfache Grundbewegungen vorgibt und sie diese ad infinitum wiederholen lässt, werden die Mittel des klassischen Tanzes sowie das Erbe Petipas und auch Balanchines weiterentwickelt, ins Extrem getrieben und in Frage gestellt. Die sehr spärliche Beleuchtung, der im ersten Teil immer wieder guillotinenähnlich fallende Vorhang, die dumpf-bedrohliche Klavierkomposition von Eva Crossmann-Hecht im zweiten Teil sowie das plötzliche spurlose Verschwinden von zwei der vier Tänzer, die als einzige aus der immer dichter werdenden Masse des Corps de Ballet ausbrechen, schaffen eine beunruhigende Atmosphäre und rufen düstere Assoziationen hervor. Forsythe lenkt hier die Gruppen mit atemberaubender Präzision und formiert die Tänzer zu immer neuen lebenden bewegten Bildern, die trotz des nahezu brutalen Gesamteindrucks – am Ende scheint die Ballettmeisterin beinahe dem Wahnsinn zu verfallen, und das Menschenkorps rollt roboterähnlich unter hämmernder Musik auf die Zuschauer zu – oft von bestechender Schönheit sind. Die Hingabe der Tänzer ist spür- und sichtbar, und so bezwingt nicht nur das Corps die Schwierigkeiten von Timing und Positionierung, sondern auch die beiden Solistenpaare (Eleonora Abbagnato und Benjamin Pech sowie Myriam Ould-Braham und Christophe Duquenne) tanzen, als hinge ihr Leben davon ab.
Der zweite Ballettabend im Palais Garnier ist dem schwedischen Choreographen Mats Ek gewidmet und besteht aus zwei Neuzugängen zum Pariser Repertoire, dem 1978 kreierten Werk „Bernarda Albas Haus“ – eine choreografische Umsetzung von Federico Garcia Lorcas gleichnamigem Theaterstück aus dem Jahr 1936 –, sowie dem abstrakten, 1994 entstandenen „A Sort of...“. Ähnlich wie William Forsythe oder Georges Balanchine hat Mats Ek ein ganz eigenes Bewegungsvokabular geschaffen; wie Nurejew oder Balanchine hat er Petipa-Klassiker wie „Dornröschen“ oder „Schwanensee“ adaptiert. Doch anders als bei diesen scheinen sich bei Mats Ek die Figuren in einer surrealistischen Ausbruchstimmung oft nicht nur von den Zwängen ihrer Umgebung, sondern auch von den rigorosen Formen der klassischen Technik befreien zu wollen, beispielsweise seine mit angezogenen Knien barfuss hüpfende und wild mit den Armen fuchtelnde Giselle.
Dies gilt auch für die – wie Giselle an diesem Versuch scheiternde – jüngste Schwester in „Bernarda Albas Haus“, deren Lebenswille von ihren vier harpyienähnlichen Schwestern sowie ihrer verhärmten, tyrannischen Mutter (brillant zweideutig interpretiert von Manuel Legris) vernichtet wird. Nichts bleibt hier mehr von der aufrechten Haltung und den gestreckten Gliedern des klassischen Tanzes, wenn Stéphane Bullion als junger Mann beim Anblick seiner Geliebten wie von Elektroschocks geschüttelt wird, diese bei seinem Verlust gekrümmt wie ein Frosch davonhüpft oder die Schwestern sich beim Zorn Bernardas in einem Knäuel unter dem Tisch zusammenkauern. Mats Ek fängt die erstickende Atmosphäre des Stückes sowie die innere Vertrocknung und Zerrissenheit der Protagonisten gekonnt ein – gewiss gibt es einige Längen in den zermürbenden Familienszenen und den frustrierten Soli der brüllenden und fluchenden Frauen, doch erzählt der Choreograph Lorcas Eifersuchtsdrama verständlich und mit psychologischer Einsicht. Dabei wird er von engagierten Interpreten unterstützt, vor allem Laetitia Pujol als ältester Schwester, Charlotte Ranson als jüngster Schwester und der strahlenden Marie-Agnès Gillot als Dienerin, die vergeblich versucht, letzte Funken der Humanität in Bernarda zu entfachen.
Viel bunter und leichtfüßiger geht es im zweiten Stück des Abends zu: „A Sort of...“ kreiert seine eigene surrealistische Welt zwischen Traum, Täuschung und Realität, in der nicht nur die Melone eines eigenwilligen Passanten an Magritte erinnert. Wie häufig bei Mats Ek schreien, reden und grimassieren die Tänzer, folgen ihren Impulsen entgegen gesellschaftlicher Codes, tauschen Rollen und Accessoires und verstricken sich durch immer neue Formen der Annäherung in innige oder problematische Paarungen. Besonders die Männerrollen waren an diesem Abend stark besetzt mit Nicolas Le Riche, Benjamin Pech und einem im Corps de Ballet herausragenden Josua Hoffalt, doch sorgte auch die wundervolle Miteki Kudo in ihrem Pas de Deux mit Benjamin Pech für poetische Momente. Angesichts des Elans, mit dem sich die Pariser Tänzer in die Choreografien Mats Eks stürzen, freut man sich schon auf die hoffentlich baldige Wiederaufnahme der anderen Repertoirestücke „Giselle“ und „Apartment“.
Besuchte Vorstellungen: 21.04.08 und 26.04.08, www.operadeparis.fr
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