„Don Quichotte“ steht drauf und Don Quichotte ist drin

Gefeierte Ballettpremiere in Nordhausen

Nordhausen, 14/10/2012

Vorweg eine gute Nachricht. Mit dieser Saison hat die Kompanie von Jutta Ebnother in Nordhausen wieder zwölf Tänzerinnen und Tänzer. Bislang waren es nur noch zehn, kluge Finanzentscheidungen und sicherlich auch Reaktionen auf die steigende Publikumsresonanz für die Tanzsparte haben das möglich gemacht. Glückwunsch!

Nach der ersten Premiere dürften die Verantwortlichen allerbeste Argumente auf ihrer Seite haben. Bereits die ersten Takte des knappen Vorspiels mit den dunklen, melancholischen Passagen der Streicher, die die tragische Traumwelt des Titelhelden charakterisieren und immer wieder aufklingen werden, mit den leichten, spanisch gemeinten, folkloristischen Brechungen, geben einen erwartungsvollen Vorgeschmack. Am Pult des Loh-Orchesters Sondershausen, einem traditionsreichen deutschen Klangkörper – hier dirigierten Franz Liszt und Max Bruch – gibt Michael Ellis Ingram seinen am Ende kräftig bejubelten Einstand als erster Kapellmeister. Sein Gespür für den Tanz ist unüberhörbar, er lässt keinen Tänzer hängen und hetzt niemals unnötig ins Leere. Programmatische Schlichtheiten in der zweckorientierten Partitur von Ludwig Minkus werden mit klanglicher Eleganz geboten, bei pseudofolkloristischer Einfalt helfen Pfiff und Augenzwinkern und fröhlich-musikantische Lust etwas nach. Und manchmal hilft auch ein humorvoller Einspruch der Tänzer, die schon mal nach einer endlosen Wiederholungsschleife fordern: Schluss Herr Kapellmeister, wir sind die Tänzer wir wollen andere Musik! Na bitte, warum nicht? Beethoven, aus der Musik zu einem Ritterballett „Deutscher Gesang“ als heiterer Einschub.

Nächste Überraschung: Der Vorhang geht auf und sofort ist klar, der Choreograf Stefan Haufe erzählt uns eine sehr eigene, mitunter im positiven Sinne auch eigenwillige, vor allem aber poetische und sensible Geschichte deren Hauptperson Don Quichotte ist. Mit stimmigen Assoziationen schafft er es auf Anhieb diesen Ritter von der traurigen Gestalt uns sehr nahe zu bringen. Haufe ist ein Geschichtenerzähler, seine Sprache ist der Tanz und seine Farben sind die individuellen Charaktere seiner Tänzerinnen und Tänzer. Damit entzieht er sich jedem unnötigen Vergleich mit dem Original eines Ausstattungsballetts nach Moskauer Art aus dem Jahre 1869.

András Virag in der Titelpartie ist ein einsamer Büchernarr und Träumer, beständig im Widerspruch zu seiner resoluten Ehefrau und aufmüpfigen Tochter Kitri. Virag ist für diese Partie ein Glücksfall, er vereint tänzerisches Können mit pantomimischem Humor, vermeidet Übertreibungen und hat die berührenden Bewegungen trauriger Einsamkeit. Für diesen Don Quichotte mit seinen Idealen einer traumhaft idealisierten Ritterzeit bricht eine Welt zusammen, wenn seine sehnsüchtig erwartete Büchersendung ein Exemplar mit leeren Seiten enthält. Mit dem Postboten als Zeugen, der somit die Rolle des liebenswerten Sancho Pansa übernimmt, macht er sich auf zum Kampf für sein Recht. So beginnt eine wunderbare Lebensreise, die zunächst in die Schlacht führt, in den Kampf mit den Windmühlen einer allmächtigen und durch nichts zu erweichenden Bürokratie. Acht Tänzerinnen und Tänzer liefern hier eine absurde Groteske an ihren Schreibtischen, die kafkaeske Formen annimmt, humorvoll und grell gebrochen wird.

Die flotte Tochter Kitri trifft inzwischen ihren Basilio, der hier kein Barbier, sondern ein Straßenmusikant ist und nach anfänglichem, jünglingshaftem Machogebaren bald sanft und gefügig seiner nicht so ganz einfachen Geliebten aus den zarten Händen frisst. Irene López Ros und András Dobi sind ein so attraktives wie gegensätzliches, vor allem tänzerisch höchst präsentes Paar.

Der Weg führt unseren Helden auf klapperigem Fahrrad mit seinem pfiffigen Begleiter, den David Roßteutscher als exzellenten Spaßvogel mit Sprungfedern und herzhafter Spiellaune tanzt, in einen Zirkus und in eine Taverne. Und in jeder Frau entdeckt Don Quichotte seine Traumfrau Dulcinea. Aber alle Versuche, seinen Schönen nahe zu kommen, schlagen fehl. Und alle stürzen wunderbar tanzend von einem Chaos ins andere. Natürlich gibt die Szene in der Taverne als erstes Finale besten Anlass kräftig und vor allem augenzwinkernd zu Kastagnettenklängen zu „hispanisieren“. Das ist Futter für die Kompanie und wenn bis dahin das Publikum längst nicht mehr sparte an spontanen Sympathiebekundungen, jetzt tobt der Saal schon vor Begeisterung.

Nach der Pause, wieder am häuslichen Tisch, hängt der Haussegen dreifach schief und das Chaos ist vollkommen, wenn Kirill Kalashinkov und Daisuke Sogawa als Polizisten herein tanzen um den Störenfried abzuführen. Wieder Flucht, wieder Abenteuer, Theater im Theater, eine nicht ganz durchsichtige Verwandlungsparty bei einem sonderbaren Herzog, den Auke Swen smart tanzt. Jetzt geraten alle Kategorien durcheinander, Frauen tagen Bärte, Sancho Pansa könnte in einer kleinen Travestie die drollige Variante einer Dulcinea abgeben, als Konkurrenz gewissermaßen zu den anderen schönen Unnahbaren: Amelie Lambrichts, Magdalena Pawelec, Alessandra La Bella und Johanna Schnetz.

Inzwischen hat unser Held begriffen, dass er für seine Geschichten selbst verantwortlich ist und füllt selbst die leeren Seiten seines Buches. Es wird das Buch seines Lebens, der Bericht von manchem Tanz auf Messers Schneide, nicht immer ganz frei von den Assoziationen eines Totentanzes. Am Ende ist der Held müde, krank und vom Tod gezeichnet. Endstation geschlossene Anstalt, Wachstation. Und noch ein Traum: noch einmal Dulcinea, seine Frau, im klassischen Kostü und grazil auf Spitze. Yuri Hamano beweist ihre Wandlungsfähigkeit, sei es wenn sie temperamentvoll keift und dabei messerscharfe Bewegungen in irrem Tempo absolviert oder jetzt, umgeben vom verträumten Hauch einer fernen Märchenwelt, mit dem Sterbenden in einigen originalen Passagen aus dem berühmten Pas de deux der Kiri und des Basil.

Selten gelingt es Abschied, Tod und Übergang so zart und würdevoll auf dem Theater zu zeigen, dazu die abgrundtiefe Einsamkeit des aus der Zeit gefallenen Menschen Don Quichotte. Keine Musik mehr. Und dann doch, ganz von Ferne, knisternd aus dem altmodischen Transistorgerät der Nachtschwester, die zarte Tanzmusik aus einer anderen Welt.

 

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