Die Aufhebung der Schwerkraft
Zur Eröffnung der Tanzbiennale Heidelberg: „Borderline“ mit der Compagnie Wang Ramirez
Zum 9. Mal fand das von Matjaž Farič initiierte Tanzfestival Fronta im 12.000 Einwohner zählenden Murska Sobota statt, 15 Kilometer von der österreichischen und ungarischen Grenze entfernt. Organisation und Programmierung erfolgen in Ljubjana, der Hauptstadt Sloweniens, und dem derzeitigem Lebensmittelpunkt des künstlerischen Direktors. Ende August reisen Management, Technik und Tanzschaffende in die krisengeschüttelte Kleinstadt, welche zuletzt ihre hohe Arbeitslosenrate aufgrund einer kollabierten Textilindustrie mit dem Aufbau eines Wellness-Sektors zu entkommen versucht. In Kooperation mit der Kommune wickelte Fronta heuer von 28. bis 31. August in und um das Park Theater ein dichtes Programm aus elf Aufführungen, drei Talks, drei Workshops, einer Diskussionsrunde und zwei Partys ab.
Von der lokalen Bevölkerung wird das Festival inzwischen gut angenommen. Man ist stolz über den Trubel im Spätsommer. Auf Nachfrage im Publikum berichtet die Mutter einer Zwölfjährigen, dass ihre Tochter eine Tanzkarriere anstrebt und man selbstverständlich immer so viele Vorstellungen wie möglich besuche. Eine ältere Dame erzählt, dass sie seit Jahren alle Möglichkeiten, Tanz zu sehen, wahrnehme, auch Busfahrten zum Opernballett nach Maribor und natürlich das Festival Fronta.
Freilich, die hohe Akzeptanz ist einer sensiblen Programmgestaltung zu danken. Statt auf konzeptuelle und sperrige Formate setzt Matjaž Farič auf physisch-theatrale Tanzcollagen. Wobei es keineswegs nur um leichte Konsumierbarkeit geht. Der Endvierziger gehört zur ersten Generation zeitgenössischer Tanzschaffenden im ehemaligen Jugoslawien. Als Humanist glaubt Farič an die Emotionalität als Motor im zeitgenössischen Tanz, wohl auch infolge seiner Sozialisierung als Gret-Palucca-Absolvent.
Nun, für intensive Gefühle sorgen heuer „Borderline“ der deutsch-französischen Kompanie Sebastien Ramirez und „Staff“ der spanischen Kompanie La Intrusa Danza. Beide Produktionen verweben biografische Fakten und persönliche Erinnerungen in ein ausgeklügeltes Setting aus Szenografie, Requisite, Kostüm, Musik, Körper und Bewegung. In „Borderline“ übersetzt das ausgezeichnete fünfköpfige Ensemble ein Leben am Rand der Gesellschaft in eindringliche Bilder aus Enge, trostlosem Warten, Konflikten, Loyalität und sehnsuchtsvollem Schweben. Nur gelegentlich illustriert der Abend zu pantomimisch, anstatt Situationen abstrakt über die Bewegung zu erzählen. Das Trio „Staff“ entführt wiederum in eine rätselhafte Dreiecksbeziehung zwischen zwei Männern und einer Frau. Für zusätzliche Spannung in diesem Amour fou hätte eine offensivere Auseinandersetzung mit dem Thema Alter gesorgt. Denn Virginia García und Damián Nuñoz tanzen offensichtlich seit Jahrzehnten schonungslos-professionell. Im Gegensatz zum jüngeren, artistischen Alexis Fernánez war die jugendliche Figur und hohe Virtuosität der beiden einer ausdrucksstarken Expressivität gewichen. Warum den Altersunterschied und seine Folgen nicht offen diskutieren?
Bedauerlicherweise konnte Matjaž Farič heuer infolge drastischer Subventionskürzungen nur zwei internationale Kompanien hosten. Geschickt begegnete er diesem Mangel mit acht (!) Aufführungen von Studierenden aus Schwerpunktgymnasien sowie aus (post)universitären Einrichtungen. Die ästhetische und kompositorische Spannbreite reichte dabei von der komplexen Raumchoreografie Maja Delaks für Studierende aus dem Schwerpunktgymnasium Ljubljana gemeinsam mit dem Duncan Zentrum in Prag über eine energetische Matjaž Farič-Sacre-Fassung an der Zagreber Ane Maletić Schule bis zu einer Verquickung von zeitgenössischem Bewegungsvokabular mit spanischer Tanztechnik von Dolma Jover Agullós Masterchoreographie an der Bruckneruniversität in Linz bis zu einem toughen Männer-Trio des britischen Choreografen Robert Clark für Postgraduates des Bohdi Project am Salzburger Sead. Die ungebrochene Energie der Jugend, ihr Lärm und Lachen auf den Gängen, ihr Strahlen beim Applaus, lassen auf eine Zukunft des zeitgenössischen Tanzes aller ökonomischen Zwänge zum Trotz hoffen.
Zusätzliche positive Energien brachte die Präsentation der neuen Maska-Ausgabe über die slowenische Tanzhistorie der Moderne und Postmoderne sowie das Vorstellen prosperierender, nationaler Tanzhäuser in Frankreich und Großbritannien im Rahmen eines Round-Tables über fehlende Strukturen in Slowenien. Dazu muss man wissen, dass ein Regierungswechsel im Jahr 2012 die Umsetzung des ersten nationalen Tanzhauses unmittelbar vor der Realisierung kippte. Ein gewaltiger Rückschlag, an dem die heimische Szene nach wie vor knabbert.
Gut, dass man in Murska Sobota den erfolgreichen Abschluss des 9. Festival Fronta ausgiebig feierte. So war der Frust endenwollend und verstellte nicht den Blick auf die kreative, artistische Praxis und das exemplarische Audience Development.
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