Innere Bedrohung
Batsheva Dance Company mit der Europapremiere von „Last Work“
Er schafft es immer wieder, zu überraschen. Ohad Naharins neue Arbeit „Venezuela“, die in Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden ihre Europapremiere feierte, beginnt ganz abrupt. Der Vorhang öffnet sich ohne Vorwarnung, die Tänzer stehen in einer Gruppe mit dem Rücken zum Publikum. Schwarze Kostüme, ein Choral ist zu hören. Nur langsam entsteht Bewegung, und plötzlich finden sich die Tänzer in Paaren zusammen und führen einen Tanz auf, der stark an einen Paso Doble erinnert, aber auch Einflüsse des Tango und des Cha-Cha-Cha mitzubringen scheint. Das, wiederum, ist typisch für die Arbeiten der Batsheva Dance Company: Immer wieder wirken einige Szenen vermeintlich harmlos. So auch das entspannte ‚Umherhüpfen’ der Tänzer. Je länger sie die Bühne durchmessen, desto mesmerisierender wirkt ihr zielloses Tun.
Ein Tänzer mit Mikrofon in der Hand zelebriert den bedeutungsschwangeren Auftritt, retardiert die Geste unendlich, um schließlich gemeinsam mit einem zweiten Tänzer einen lebhaften Rap zum Besten zu geben. Und alles so ‚schön frontal synchron’. Ein bisschen wie in einem sauberen Musikvideo.
Bei Ohad Naharin stellt man sich immer die Frage: Was soll das? Kaum ein Choreograf schafft es jedes Mal aufs Neue, seine Tänzer derart mit Symbolik aufzuladen. In jeder Szene ist man sich sicher, Zeuge eines komplexen Zitats zu sein. Entschlüsselung unmöglich. Tänzerinnen reiten auf Tänzern, die auf allen Vieren langsam, ganz langsam, über die Bühne krebsen. Scheinbar endlos. Dieses Bild an sich ist nicht gewaltig. Seine Wirkung aber desto größer. Wie macht er das? Immer wieder diese Atmosphäre vermeintlicher Warnung, die Projektion von Menetekeln in den Raum, wortlos. Kyrie eleison. Wovor soll uns das Gebet schützen? Aus welcher Richtung kommt die Bedrohung?
So konsequent unkonkret alle Gesten wirken, strotzt hier jeder Moment vor Souveränität. In gefühlt nur einer einzigen Lichtstimmung wird getanzt, während sich die Frage stellt, wo die Grenze zum Tanztheater liegt. Obwohl Tanztheater in der Nähe zu sein scheint, bewegt sich diese Arbeit trotzdem nicht an die Grenze. Es bleibt Tanz.
In einer ausgezeichneten Dramaturgie wird so etwas wie ein Muster erkennbar, es scheint ein Zyklus abzulaufen, wenn sich Szenen wiederholen. Dabei wirken Variationen fast wie Entwicklungen: Aus weißen Tüchern werden fiktive Flaggen, keinem tatsächlichen Staat zuzuordnen. Der Umgang mit diesen Flaggen erscheint auf den ersten Blick vordergründig. Ist es aber nicht. Alles bleibt unergründlich.
Es ist auch eine unterschwellige Wut, die sich durch das gesamte Stück zieht. Angesichts dessen fragt man sich, was wohl dabei herauskäme, wenn man Ohad Naharin mit Hofesh Shechter in einen Raum sperren würde...
Alles bleibt rätselhaft. Die Bedeutung jeder Geste liegt allein in ihrer Interpretation. Beckett hat dazu so treffend formuliert: „Weh dem, der Zeichen sieht“. Wahrscheinlich hat er Recht.
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