Weh dem, der Zeichen sieht!
Europapremiere von Ohad Naharins „Venezuela“ in Hellerau
Ein Gastspiel Israels bekanntester Tanzcompany ist immer ein unfreiwilliges Politikum. Besonders wenn es im Rahmen der Feierlichkeiten zum 60jährigen Bestehen eines Staates stattfindet, der sein Recht auf Existenz nach wie vor mit Waffengewalt verteidigt. Schon seit Monaten ist das Internet voll mit Boykottaufrufen von Menschenrechtsorganisationen, die klarmachen, dass 60 Jahre Israel zugleich auch immer 60 Jahre palästinensischer Vertreibung, willkürlicher Grenzziehung und Unterdrückung bedeuten.
Ohad Naharin, seit fast 20 Jahren künstlerischer Leiter der Batsheva Company und weltweit gefeierter Choreograf, hat immer wieder als Privatmann die „Kriegsverbrechen” seines Staates kritisiert und sich auch künstlerisch mit dem Nahostkonflikt auseinander gesetzt. In seinem Stück „Drei”, das am Freitag die Feierlichkeiten im Haus der Berliner Festspiele beschloss, sucht man jedoch vergeblich nach deutlichen politischen Stellungnahmen. Stattdessen ist der Abend eine Feier der Individualität seiner Tänzer, eine bittersüße Hymne auf die Stärke und Verletzlichkeit des Individuums, die trotz aller Virtuosität ein wenig an die minimalistische Ausstellung nackter Menschlichkeit von Jérôme Bels „The show must go on” erinnert. Für eindeutige politische Konnotation sorgen im Haus der Festspiele nur die Anwesenheit des israelischen Botschafters und die damit verbundene sichtbare Präsenz durchtrainierter Sicherheitsleute in makellos sitzenden Anzügen.
Das dreiteilige Programm, das moderierend durch das wiederholte Erscheinen eines Tänzers mit Monitor unter dem Arm unterbrochen wird, auf dem sein eigenes Gesicht den weiteren Verlauf des Geschehens ankündigt, ist einfachen elementaren Begriffen gewidmet.
In „Bellus” („Schön”) lässt Naharin Bachs „Goldberg Variationen” tanzen und stellt dabei eine Spannung zwischen individuellen Gesten und der Dynamik einer Gruppe her. Das zweite Stück, „Humus” („Erde” und zugleich das aus Kichererbsen zubereitete Lieblingsgericht vieler Israelis), präsentiert zu Ambient-Klängen von Brian Eno eine neunköpfige Frauengruppe, die sich mal im Durchexerzieren minutenlanger Yoga-Bodenpositionen gefällt und dann wieder mit herausgestreckter Zunge und verrenkter Hüfte auf beunruhigende Weise die sexistische Ikonographie des weiblichen Körpers parodiert.
Elemente beider Stücke laufen im 45minütigen „Seccus” („Geschlecht”) zusammen, das die Individualität jedes Einzelnen der 17 Tänzer unterstreicht und sie zugleich in eine verwirrend mäandernde Form gießt, die an die Werke von William Forsythe erinnert. Kontinuierlich strömen die Akteure durch Gänge zwischen grauen Quadern am Bühnenrand auf den Tanzboden, verbinden sich zu kurzen Sequenzen, Duos, Trios und Gruppenbildern und verschwinden wieder – ohne dass ein Zentrum des Geschehens auszumachen wäre. Ebenso heterogen wie die Musik – ein pulsierender Soundmix, der von Big-Band-Klängen über Electronica bis zu den Beach Boys reicht – scheint das Stück in alle Richtungen gleichzeitig zu explodieren. Hier ein in Posen erstarrendes Mann-Frau-Duo, das immer wieder durch das plötzliche Verlöschen der Scheinwerfer unterbrochen wird, dort eine kollektive Selbstentblößung, ein militärischer Marsch zu metallischen Beats oder die Ohnmachtsgeste einer Tänzerin, die ihre leeren Hände in die Höhe reckt.
Naharin und seiner Company macht es spürbar Spaß, das Publikum zu überfordern. Immer wieder tauchen Sequenzen auf, die vermutlich vielen anderen Choreografen für ein abendfüllendes Stück ausgereicht hätten – bei Batsheva sind sie nur Farbtupfer in einem bunten Feuerwerk der kontrollierten Verausgabung. Höhepunkt des Abends ist ein Pas de Deux zweier Tänzer, die sich zu homoerotisch aufgeladenen Bollywood-Klängen ineinander verschlingen, sich lieben, verletzen und zurückweisen und kurz vor der erotischen Explosion in streng choreografierte Foxtrott-Schritte verfallen.
„Drei” ist nicht nur ein mitreißender Theaterabend, dem es immer wieder gelingt, allzu expressive individuelle Gesten in ein abstraktes Ganze zu überführen, es dokumentiert auch in geradezu exemplarischer Weise Naharins Technik der „Gaga-language”, die jeden einzelnen Tänzer bei der Suche nach individuellem Ausdruck unterstützt.
Die Spannung zwischen Individuum und Gruppe, zwischen einzelner Geste und Gesamtbild, zwischen selbstironischen Humor und existenziellem Aufschrei ist es, die die Arbeit der Batsheva Company von vielen ihrer Zeitgenossen unterscheidet. Soviel geballte Menschlichkeit, Sexyness, und ständige Überforderung durch neue Eindrücke bekommt man sonst selten auf einer Bühne zu sehen. Und mehr, so scheint uns Ohad Naharin zu sagen, kann Tanz in unserer Gesellschaft leider auch nicht leisten. Doch vielleicht ist das bei allem Understatement schon viel politischer, als man zunächst glauben möchte.
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