Berührende Fabel

Höchster Zusehgenuss: Tom Hoopers Filmversion von „Cats“

Es ist die erste Verfilmung des Musicals „Cats“, 38 Jahre nach seiner Uraufführung in London. Ein grandioses Erlebnis bietet Regisseur Tom Hooper und setzt seine Erfolgsserie nach „The King‘s Speech“ und „Les Misérables“ damit fort.

Berlin, 07/06/2020

Konturenhaft scheinen mandelförmige Augen aus dem Katzenhimmel auf. Dann gießt der Vollmond Licht über die reklametrunkene City. „The Egyptian“ liest man über dem Theater im Zentrum. Ein altes Auto lenkt durch verwinkelte Straßenschluchten, die Fahrerin wirft einen Sack mit beweglichem Inhalt auf den Müll. Heraus windet sich Victoria, ein junges weißes Kätzchen, und wird von den Katzen des Reviers neugierig beäugt. Jellicles heißen sie, präsentieren sich überaus geschmeidig und zeigen Akrobatik: auf ausgedienten Autoreifen, im Sprung von Wrack zu Wrack, mit Saltokaskaden, einbeinig kopfunter hängend an einer Wäscheleine. Auf einem weiten Platz finden sie sich in wildem Tanz, erklimmen ein Denkmal - und sind plötzlich verschwunden. Dann kommt es zur behutsamen Kontaktnahme mit der Neuen, wobei sich die ganz speziellen Charaktere der Samtpfoten enthüllen.

So beginnt die erste Verfilmung des Musicals „Cats“, 38 Jahre nach seiner Uraufführung in London. Ein grandioses Erlebnis bietet Regisseur Tom Hooper und setzt seine Erfolgsserie nach „The King‘s Speech“ und „Les Misérables“ damit fort. Mit 10, so erzählt er im Bonusmaterial, habe er eine Aufführung von „Cats“ besucht und sei fasziniert gewesen. Für die filmische Adaption hat er sich mit Drehbuchautor Lee Hall verbündet, von dem das Script für „Billy Elliot“ stammt. Gemeinsam schufen sie eine stringentere Lesart, die auf Andrew Lloyd Webbers Musical und dessen literarischer Vorlage, T.S. Eliots 1939 publizierter Gedichtsammlung „Old Possum‘s Book of Practical Cats“, basiert. Victoria wird nun zu einer wesentlichen Figur: Ihre Initiation in den Bund der Jellicles bietet den Rahmen der Story, Victoria führt durch die Geschichte und erlebt die aufregenden Dinge um die Wahl jener Katze, der auf einem Ball ein neues Leben geschenkt wird. Victoria ist es auch, die der abgehalfterten Grizabella einen Auftritt bei diesem Wettbewerb verschafft und für die Ex-Starkatze die Wendung ins Wundersame bewirkt. Im Kronleuchter des morbiden Theaters, dann in einer Montgolfiere steigt sie als Gewinnerin dem Katzenhimmel des Beginns entgegen.

Was im Musical „nur“ eine attraktive Abfolge schmissiger Titel ist, gewinnt in der Filmversion an inhaltlicher Dichte und Glaubwürdigkeit und wertet die tierischen Ereignisse auf eine menschlich höchst berührende Ebene auf. Empathie, Toleranz und Miteinander sind die Botschaften, die der Regisseur vermitteln möchte, ohne moralisch erhobenen Zeigefinger, jeden Anflug von Kitsch und Sentimentalität. Viele Faktoren tragen dazu bei, etwa die flexiblen Kostüme von Paco Delgado und Sharon Martins Maske, die nicht die Gesichter der Darsteller zudeckt. Was die Bühne mit ihren fixen Dekorationen nicht liefern kann, feiert der Film: Szenenbildnerin Eve Stewart lässt in raschem Wechsel an den unterschiedlichsten Orten agieren, im Hinterhofmüll, in einer Kellerküche und einem noblen Salon, auf Friedhöfen, in bröckelndem Theaterambiente, auf den Plätzen des Londons der 1930er Jahre, als Eliots Band in Soho entstand. Übergroß sind die speziell angefertigen Requisten, damit die Proportion zu den Katzen stimmt. Hektik kommt dennoch nicht auf, wenngleich Schnitte rasant von der Totale zur Großaufnahmen der Gesichter führen und dem Film so seinen ganz eigenen Rhythmus geben.

Andrew Lloyd Webber als ausführender Mit-Produzent zeichnet für den modernen Sound seiner Musik verantwortlich und hat für Victoria einen neuen Song komponiert: „Beautiful Ghosts“, den zum Abspann Taylor Swift außerhalb ihrer eigentlichen Rolle in Hitqualität singt. Es ist die erlesene Mannschaft der Sänger, Schauspieler und Tänzer, die den Film und seine Story zum bewegten und bewegenden Ereignis machen, und das mit einem kaum zu übertreffenden dynamischen Furor. Ein Ensemble aus Könnern der verschiedenen Genres zu einer nahtlos singenden, tanzenden und spielenden Crew verschweißt zu haben, dies ist einer der weiteren Trümpfe dieser „Cats“-Verfilmung, die mit technischen Tricks sparsam umgeht und nicht überdeckt, was die Darsteller einbringen.

Francesca Hayward, Principal im Royal Ballet und erst kürzlich als Julia in Kenneth McMillans freilicht verfilmter Fassung des Shakespeare-Balletts zu sehen, ist rundum überzeugend in der ersten Filmrolle als schüchterne Victoria. Sie verhilft Grizabella zu neuem Ansehen: US-Musical-Star Jennifer Hudson verleiht ihrem Part als abgerissener einstiger Glamour-Katze viel Würde und erhebt „Memory“ vom virtuosen Schmettersong zum aufwühlenden Schrei einer gedemütigten Kreatur nach Achtung. Wenn Ian McKellen als Theater-Kater Gus von der Zeit seiner Triumphe schwärmt, dann weht ein Hauch von Shakespeare über die Musical-Bühne. Ebenbürtig ist die pelzumhüllte Judi Dench in Änderung der Vorlage ein weiblicher Old Deuteronomy voller Weisheit und Güte. Allein diese zwei großartigen Darsteller adeln den Film. Was die übrigen Mitwirkenden einbringen, steht dem nicht nach. Ob Idris Elba als diabolischer Macavity und Taylor Swift als seine schillernde Gefährtin Bombalurina, ob Jason Derulo als eitler Rum Tum Tugger, Royal-Ballet-Principal Steven McRae als mitreißend steppender Eisenbahn-Kater Skimbleshanks, James Corden als opulent nimmersatter Komiker Bustopher Jones, Broadway-Star Robbie Fairchild als sensibler Munkustrap, der hochtalentierte Laurie Davidson als magischer Mr. Mistoffelees mit den unvergesslichen und die vielen, bis in kleinste Rollen ideal besetzen Darsteller - sie alle hat Broadway-Choreograf Andy Blankenbuehler in hinreißenden Tänzen vereint, vom vollen Ensemble bis zum Solo oder dem Pas de deux, vom witzigen Tanz der Kakerlaken oder der Mäuse bis zum finalen Hymnus auf die Jellicles.

Nach 21 Jahren Laufzeit des Musicals in London, 18 in New York, 15 in Hamburg, rund 81 Millionen Zuschauern in 50 Ländern wird nun die exzellente Filmfassung einer preisüberhäuften Mannschaft den Siegeszug von „Cats“ fortsetzen helfen.

 

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