„Abendliche Tänze“ von Reiner Feistel beim Tanztheater Ulm

„Abendliche Tänze“ von Reiner Feistel beim Tanztheater Ulm

Das große Glück zum Abschied

„Abendliche Tänze“ von Reiner Feistel beim Tanztheater Ulm

Nach fünf Jahren als Direktor des Tanztheaters Ulm verabschiedet sich Reiner Feistel mit „Abendliche Tänze“ unbd stellt noch einmal die großen Fragen: Wer bin ich? Wer bist du? Wer und was sind wir? Fragen, wie geschaffen für den Tanz.

Ulm, 10/05/2023

Angekommen? Gestrandet? Am Ziel? Am Ende aller Irrungen und Wirrungen der gewählten und der nicht gewählten Lebenswege?

Von Beginn an stellt der neue Abend des Tanztheaters Ulm unter dem Motto „Abendliche Tänze“ von Reiner Feistel mit der großartigen Kompanie vor allem Fragen. Und das ist auch gut so. Gäbe es mögliche Antworten, dann vor allem in den Gedanken und Erinnerungen der Zusehenden, deren Horizonte individueller Wahrnehmung sich dadurch weit öffnen. Eine Abfolge schönster Glücksmomente durchzieht diese abendlichen Tänze.

Da sind zunächst vor allem drei Kompositionen, die jeweils höchste Anforderungen an das Orchester stellen und an den tänzerischen Dialog und die räumlichen Assoziationen des choreografischen Zusammenklanges.

Da ist Dirigent Felix Bender, der grandios und einfühlsam, in höchster Aufmerksamkeit für den Tanz, die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm in die ergänzenden Dialoge der Klänge und des Tanzes zu führen. Selbst bei betörenden Passagen werden bei außerordentlicher Klangschönheit auch Widersprüche hörbar. Zudem beschreitet diese Folge von drei anspruchsvollen Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten, einen Weg, dem es an klangexistenziellen Untiefen nicht fehlt.

Was mit Sergej Rachmaninows sinfonischer Dichtung, „Die Toteninsel“ – inspiriert durch das Gemälde von Arnold Böcklin – beginnt, geht bei hoher Sensibilität des Streicherklanges über in Charles Ives kurze Komposition mit programmatischem Titel, „The Unanswered Question“. Nach der Pause dann, in gänzlich anderen Dimensionen der Klänge, die „Vierte Sinfonie“ von Gustav Mahler. Im letzten Satz kommt die menschliche Stimme hinzu. Das Sopransolo der wunderbaren Solistin Maria Rosendorfsky mit einem Lied aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Der Gesang auf den Genuss „himmlischer Freuden“, was aber hier, der Tanz macht es möglich, ganz irdisch zu verstehen ist.

Dazu gehören Frank Fellmanns Raumkompositionen im Licht von Marcus Denk und Grebing: In Anlehnung an Böcklins Gemälde ergibt sich die bildhafte Assoziation einer Insel. Das Licht ist trügerisch. Zu Gustav Mahlers Musik kann sich die Landschaft verdunkeln, unergründliche Weite und Tiefe assoziieren, und doch gleich darauf wieder üppig blühende Zeichen der Hoffnung setzten. In dunkler Bedrohlichkeit senkt sich ein alle und alles umschließendes Haus? Angekommen, zu Hause? Oder, auch das ist möglich, noch einmal davon gekommen? Der Vorhang senkt sich. Der Tanz geht weiter.

So bleiben diesen abendlichen Tänzerinnen und Tänzern alle Wege offen. Die vier Tänzerinnen und fünf Tänzer überzeugen in diesem Tanztheaters von Reiner Feistel durch die hohe Sensibilität ihrer sehr individuellen Musikalität, die jeweils übergeht in die bewegende Melodik der Körper.

Berührend erwachen die Bewegungen aus Stille und Dunkel, werden zu intensiven Dialogen der Einzelnen, untereinander oder mit der Gruppe. Immer wieder ergeben sich tänzerische Bewegungen individuellen Widerstandes, auch im Übergang zu Szenen der Heiterkeit, des Humors, faunischer Freude, vor allem großer Lust am Spiel. Wer hat hier den Hut auf, wer trägt den Rock, wer hat die Hosen an? Momente des tänzerischen Überschwanges folgen auf jene der stillen Poesie des Abschiedes. Sie verinnerlichen die Ferne der Landschaft im Dialog mit den Klängen, gerade bei Mahlers Musik, mit den Erkundungen eigener Landschaften persönlicher Existenzen. Immer aber, das ist bestimmend für diese abendlichen Tänze, geerdet, auf bloßen Füßen.

Ja, und immer wieder mit Humor, etwa wenn Tänzerinnen und Tänzer, jeweils bei feinstem Augenzwinkern, einander die Räume überlassen. Mitunter aber kommen Erinnerungen an steinerne Bilder mittelalterlicher Totentänze. Auf der Bühne lösen sie sich auf, in Tänze des Lebens, jener abendlichen Tänze eben, mit denen sich nach fünf Jahren Reiner Feistel als Direktor des Tanztheaters Ulm verabschiedet: Immer im Sinne jener letztlich nie zu beantwortenden Fragen, wer bin ich, wer bist du, bist du ich, bin ich du, wer und was sind wir. Fragen, wie geschaffen für den Tanz, denn der Tanz gibt letztlich keine Antworten, sonst begänne der Stillstand. Auf die Tänze des Abends und des Abschieds folgen die des Morgens und des Neubeginns, auch beim Tanztheater in Ulm.

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