Gewaltige Bilderflut, die nachdenklich stimmt
„Vlaemsch (chez moi)” von Sidi Larbi Cherkaoui als Österreich-Premiere im Festspielhaus St. Pölten
„Ukiyo-e“ von Sidi Larbi Cherkaoui bei den Ludwigshafener Festspielen
Ein Klassiker unter den Gruppenspielen ist die Herausforderung, sich von einer erhöhten Position aus in die rettenden Arme der Mitspieler fallenzulassen. Dieser Test für die Integrationsfähigkeit einer Gruppe fiel im Tanzstück „Ukiyo-e“ von Sidi Larbi Cherkaoui extrem aus: Von hohen, auf Rädern beweglichen und scheinbar ins Nichts führenden Treppen (Bühnenbild Alexander Doge) stürzen sich einzelne Protagonisten immer wieder ins Ungewisse, vorwärts oder rückwärts ohne jedes Zögern. Es ist das Vertrauen in eine Gemeinschaft, die den Einzelnen auffängt, hält, und ihm doch Raum zur individuellen Entfaltung gibt – so lautet die tröstliche Botschaft des Mutmachstücks, mit dem der Choreograf seine erste Spielzeit (2022/23) als Leiter des „Ballet du Grand Théâtre de Genève“ angetreten hatte.
Für die Ästhetik der Choreografie hat sich der belgisch-marokkanische Choreograf, seit 25 Jahren bekannt als Mittler zwischen kulturellen Welten, vom farbenfrohen japanischen Holzschnitt-Design der „Fließenden Welten“ (Ukiyo-e) inspirieren lassen. Modeschöpfer Yuima Nakazato hat die spirituelle Welt und das fröhliche Hier und Jetzt in seinen Kostümen doppelseitig auf den Punkt gebracht: Individuell designte schwarze Kostüme vereinbaren Elemente traditioneller buddhistischer Mönchskleidung mit futuristisch wirkenden, glitzernden Kutten und aktuellen Modeströmungen. Die bunt gemusterten Innenseiten blitzen nur bei großen Bewegungen auf und können zum fröhlichen Ende nach außen gewendet werden.
Zwischen den Welten
Zusammengehalten wird das Stück durch eine raffinierte Komposition des polnischen Musikers Simon Brzóska, der sich ebenso selbstverständlich in unterschiedlichen kulturellen Welten bewegt wie der Choreograf. Minimalistische Parts wechseln mit klassisch beeinflussten. In dieses Geflecht ist mit größter Selbstverständlichkeit der vietnamesische Musiker Alexander Dai Castaing eingebunden, der elektronische Elemente und Schlagzeug einbringt. Mit zwei weiteren japanischen Mitwirkenden verbindet Sidi Larbi Cherkaoui eine langjährige Zusammenarbeit: Shogo Yushili, der japanisches Schlagwerk und Gesang performt, und Kazutomi „Tsuki“ Kozuki, der als Vortänzer und -Sänger den prägenden Ton vorgibt.
Das alles verbindet der Choreograf mit einem Bewegungsmaterial, das über weite Strecken auf vielfachen unterschiedlichen Drehungen basiert, bei denen sich Oberkörper und Unterkörper mal schmerzhaft in gegensätzliche, mal befeuernd in dieselbe Richtung drehen. Das erinnert eher an rituelle Tänze als an Ballett-Ästhetik; die Beine bleiben meist gebeugt, der Schwerpunkt tiefer am Boden. In kleinen und größeren Dramen verhandelt der Choreograf kritische Lebenssituationen: Da wird einer quasi grundlos aus der Gruppe ausgeschlossen und muss sich erst einmal sein Selbstbewusstsein erkämpfen. Ein Männer-Paar scheitert an einer durch die Gruppe gebildeten Körpermauer – in der Einzelne dann doch lebende Trittsteine und Griffmöglichkeiten fürs Hochklettern freigeben. So blitzen aktuelle Themen auf wie die weibliche Selbstbestimmung oder das Finden eines Partners.
Für die Schlussphase des Stücks tragen die 24 modern und individuell anmutenden Mitglieder des Genfer Ensembles dann doch ihre nackte Haut zutage: in hautfarbenen Dessous, mit blutroten Flecken – links, wo das Herz sitzt oder ein bisschen darüber. Egal – wie verletzlich jeder Einzelne ist, hat der Choreograf da längst durchgespielt. Am Ende steht ein simpler gegenläufiger Reigen, in dem alle allen selbstverständlich Raum lassen, vor dem Vorhang und dicht dran am begeisterten Publikum beim Auftakt der Ludwigshafener Festspiele.
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