„In C“ von Sasha Waltz & Guests. Tanz: Ensemble

„Ein Haus nur für den Tanz“

Ein Gespräch mit Sasha Waltz anlässlich der Verleihung des Deutschen Tanzpreises

Seit über 30 Jahren tourt sie mit ihrer Kompanie „Sasha Waltz & Guests“ in aller Welt. Wie sieht die Choreografin die Entwicklung im zeitgenössischen Tanz heute?

Berlin, 22/09/2024

Annette BoppWie war es für Sie, als Sie die Nachricht erhalten haben, dass Sie den Deutschen Tanzpreis bekommen?

Sasha Waltz: Als ich den Anruf bekam, war ich noch gar nicht richtig aufnahmefähig. Ich hatte gerade die Premiere der „Johannes-Passion“ in Salzburg hinter mir und war noch sehr erschöpft. Der Preis ist eine große Ehre, und ich freue mich sehr, dass meine über 30 Jahre währende Arbeit jetzt so wertgeschätzt wird. 

Es ist das erste Mal, dass alle drei Preiskategorien an die Freie Szene gehen. Ist Ihnen das aufgefallen? 

Ja, das finde ich sehr schön, denn die freie Szene braucht gerade aktuell noch mehr Aufmerksamkeit. Ich persönlich finde die Einordnung in Freie Szene und nicht Freie Szene eher schwierig. Ich kann mich zwar zur Freien Szene zählen, aber seit vielen Jahren ist meine Kompanie Sasha Waltz & Guests ja durch einen Haushaltstitel auch institutionell gefördert.

Sie waren eine Zeitlang Co-Intendantin des Staatsballett Berlin und zuvor fünf Jahre in der Künstlerischen Leitung an der Schaubühne in Berlin. Und Sie arbeiten an vielen großen Häusern in aller Welt. 

Dadurch, dass ich so viele Opern gemacht habe und noch mache, war ich immer wieder an staatlichen Institutionen und Häusern tätig. Jede Phase hat andere Herausforderungen, man muss sich immer wieder neu justieren. Das Ballett bekommt an den meisten Opernhäusern aber nicht den Raum, den es braucht, weil die Oper dort immer Priorität hat. Die Unabhängigkeit, die das Ballett als Sparte benötigt, ist bei weitem nicht überall gewährleistet. Sie ist eher die Ausnahme als die Regel. 

Ein Repertoire aufbauen

Warum haben Sie sich damals darauf eingelassen, das Staatsballett mit zu übernehmen? 

Ich wollte eine Brücke bauen zwischen klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz und dachte, es sei für die zeitgenössische Tanzsprache wichtig. Sie kann nur dann in den Tanzkanon eingehen, wenn sie an den institutionellen Häusern stattfindet. In der Freien Szene können noch so tolle Werke entstehen, sie haben oft nur wenig Überlebenschancen, weil sie – auch aufgrund der Förderstrukturen –meistens nur kurz gespielt werden können, und freie Künstler*innen dadurch nur schwer ein eigenes langfristiges Repertoire aufbauen können. Als ich 1993 meine Kompanie gegründet habe, war ich mir darüber bewusst, dass ich ein Repertoire aufbauen und spielen möchte und muss. Nur so kann man auf der einen Seite ein Publikum gewinnen und auf der anderen Seite eine künstlerische Biographie aufbauen, die nachvollziehbar ist. Das Repertoire ist unser Archiv. Bücher von Schriftsteller*innen stehen in jeder Bibliothek, in jeder Buchhandlung. Unsere Stücke nicht, abgesehen von Videos, für die es aber kein eigenes Archiv gibt. Unsere Kunstform ist nur lebendig und live erlebbar. 

Inwiefern ist Ihnen das beim Staatsballett gelungen? 

Johannes Öhman und mir ist einiges gelungen, wir haben viele zeitgenössischen Künstler*innen am Haus sowie ein zeitgenössisches Ensemble mit 9 Tänzer*innen etabliert und einige Weichen gestellt, auch für die Zeit nach unserem Weggang. Allerdings kam dann Corona. Das zeitgenössische Ensemble wurde aufgelöst. Das war für mich sehr schmerzvoll. Ich finde es immer noch schade. 

Gibt es ähnlich positive Beispiele an großen Häusern?

Da würde ich allen voran das Ballett der Pariser Oper unter der Direktion von Brigitte Lefèvre nennen, das war von 1995 bis 2014. Sie hat ein breites Spektrum an zeitgenössischen Choreograf*innen eingeladen, dort zu arbeiten, und hat so ein modernes Repertoire aufgebaut. So etwas müsste eigentlich festgeschrieben sein, auch seitens der Politik, damit man es einfordern kann. Ich finde, an den großen Häusern muss ein großes Spektrum an zeitgenössischem Tanz zu sehen sein – schließlich erhalten diese Institutionen die meisten Mittel. Die Freie Szene hat daran prozentual einen verschwindend kleinen Anteil. Dort aber entsteht oft die Innovation, das Neue, was dann in die großen Häuser übernommen wird. Das finde ich problematisch. 

Würden Sie noch einmal in so einer Institution arbeiten wollen? 

Alles kommt, wie es kommen muss. Im Moment bin ich glücklich in der Unabhängigkeit mit meiner Kompanie, wo ich mich voll auf meine künstlerische Arbeit konzentrieren kann. 

Feste und freie Tänzer*innen 

Haben Sie eine Kompanie mit fest angestellten Tänzer*innen? Oder arbeiten Sie mit freien Künstler*innen auf Honorarbasis? 

Anfangs war ich ausschließlich projektorientiert, Förderung gab es immer nur für ein bestimmtes Projekt. Wir sind viel getourt und haben uns dadurch zusätzlich finanziert. Es gab also immer nur Projektgelder für die Arbeitsphase, meist drei Monate, und danach die Gastspielverträge. Erst an der Schaubühne, wo ich von 1999 bis 2004 gearbeitet habe, hatte ich ein festes Ensemble mit 13 Tänzer*innen. Danach waren es nur noch zehn. Heute habe ich sieben Tänzer*innen-Stellen in meiner Kompanie, die anderen werden projektweise dazu engagiert. Über viele Jahre hat sich ein eingeschworenes Team mit einem Pool von ca. 30-35 freien Tänzer*innen entwickelt, mit denen ich immer wieder zusammenarbeite. Durch eine langfristige Vorausplanung können wir immer eine gewisse Sicherheit bieten, deshalb funktioniert das System so sehr gut. Ich würde allerdings sehr viel lieber allen Tänzer*innen, mit denen ich aktuell viel arbeite, das sind ca. 20, einen festen Vertrag anbieten können – wir haben genug Arbeit. Das ist allerdings eine kulturpolitische Diskussion.

Und betrifft sicher nicht nur Berlin...

Nein, das gilt für ganz Deutschland, von Europa ganz zu schweigen. 

Wie wichtig ist ein eigenes Haus für den Tanz bzw. für Ihr Schaffen? 

Dass wir mit dem Weggang von der Schaubühne ein permanentes Theater verloren haben, ist nach wie vor ein großes Problem. Mir fehlt ein kontinuierlicher Ort, wo ich mein Repertoire zeigen kann. Für viele Stücke und vor allem für die großen Werke finde ich kaum Spielstätten. Wir haben nirgendwo eine regelmäßige Präsenz außer im Berliner Radialsystem. Aber auch dort können wir unsere vollen Möglichkeiten nicht auskosten, denn es ist ein Spielort für die gesamte Freie Szene.

Welcher Ort wäre für Sie der ideale? 

Das Haus der Berliner Festspiele ist ein wunderbarer Raum für den Tanz, die Schaubühne und die Volksbühne sind es ebenso. In der Staatsoper arbeite ich sehr gern. Aber die großen Opernhäuser planen noch weiter im Voraus als wir das bereits tun. Ein konkretes Beispiel: Meine neueste Arbeit „Johannes-Passion“ kommt in Salzburg und Dijon heraus und geht im November nach Paris ins Théâtre des Champs-Elysées. In Berlin finde ich dafür bisher keinen Spielort. Wer soll so eine große Produktion stemmen mit zwei Chören, Orchester, Solist*innen und den Tänzer*innen? Das kann nur ein großes Opernhaus oder ein großer Konzertsaal. Das Stück ist schwer auf kleinere Spielstätten zu adaptieren. 

Sie haben zwei mittlerweile erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Wie konnten Sie das mit Ihrer künstlerischen Tätigkeit vereinbaren? 

Es war sehr anstrengend und fordernd. Man hat immer das Gefühl, man gibt nie genug – weder in der Kompanie noch im Familienleben. Ich bin da sehr stark an meine Grenzen gegangen und darüber hinaus. Nach „Roméo et Juliette“ hatte ich einen regelrechten Zusammenbruch. Die Kinder waren damals noch sehr klein. 

Was hat Sie dieser Zusammenbruch gelehrt? 

Ich habe seither viel delegiert. Jedes Stück hat sein eigenes Repetitionsteam, ich konzentriere mich auf die Kreation.

Die drängenden Fragen

Die 7. Sinfonie von Beethoven haben Sie in den antiken Ruinen von Delphi in Szene gesetzt, zusammen mit Teodor Currentzis. Wie war diese Arbeit für Sie? 

Es war inspirierend, an einer antiken Stätte vor dem Apollo-Tempel und in einer Landschaft mit dieser unglaublichen Geschichte zu arbeiten. Das war für das filmische Projekt „Mit Beethoven durch Europa: 9 Sinfonien, 9 Städte“ von arte tv, choreografiert hatte ich dafür nur zwei der vier Sätze von Beethovens Siebenter. Aber dann war mir das doch zu wenig, und ich wollte die ganze Sinfonie choreografieren. Als ich damit fertig war, dachte ich, dass alle noch diesen Ort, den Apollo-Tempel in Delphi, in sich tragen. Er schwingt mit. 

Wie beeinflussen Räume Ihre Arbeit? 

Bei jedem Stück kommt es darauf an, für welchen Raum ich es inszeniere. Was ich vorfinde, fließt auch ins Bühnenbild mit ein. Noch stärker ist das bei den singulären Dialoge-Projekten in Museen, die ja immer in und für ganz konkrete Räume entstehen.

Wie kommt die Musik zu Ihnen? 

Ganz unterschiedlich. Ich höre mir viel an, bin oft in Konzerten. Dann kommt der Moment, wo ich sage: Damit möchte ich mich auseinandersetzen. Teilweise sind es auch Anfragen, die an mich herangetragen werden. Die „Johannes-Passion“ kam über den Dirigenten, Leonardo García Alarcón. Mit ihm hatte ich schon die Wiederaufnahme von „Orfeo“ gemacht. Der Komponist Toshio Hosokawa hat mich für die Oper „Matsukaze“ angefragt, eine Uraufführung. Es ist für mich etwas sehr Besonderes, mit zeitgenössischen Komponist*innen zu arbeiten und die Choreografie gleichzeitig mit der Musik zu erschaffen – im Dialog, im künstlerischen Austausch. Da fließen alle Künste zusammen, keine kann ohne die andere. 

Welches Thema würde Sie zukünftig reizen? 

Ich stelle immer wieder neue Fragen. Im Moment sind es vor allem gesellschaftspolitische Fragen, die wirklich drängend sind. „In C“ ist eine ganz gute Antwort darauf, wie man Menschen zu kollektiven Prozessen, gemeinsamem Handeln und demokratischem Miteinander bringen kann. Aber es gibt sicher noch andere Wege. 

Wie sehen Sie die Entwicklung in der Freien Szene in den vergangenen 20 Jahren? 

Ich finde, es ist erstaunlich viel entstanden in diesen Jahrzehnten, in ganz Deutschland. Das ist schon eine Erfolgsgeschichte für den zeitgenössischen Tanz, nicht nur in Berlin, auch anderswo. Als ich 1993 begann, gab es sehr wenig, keine Studios, keine Szene. Es gab New York, Brüssel, Amsterdam, die Centres Choréographiques in Frankreich. Mittlerweile ist Berlin eine Tanzmetropole geworden mit vielen internationalen Choreograf*innen und Tänzer*innen, die hier leben und arbeiten. Es ist eine sehr lebendige, tolle Szene, die noch viel intensiver unterstützt werden müsste. Die günstigen Mieten sind schon lange passé, man muss in die Peripherie gehen für bezahlbare Räume. Es ist nach wie vor das größte Problem, dass es keinen Ort für den Tanz gibt. Es ist höchste Zeit, dass wir ein Tanzhaus etablieren in Berlin! 

 

Der Dachverband Tanz Deutschland lädt zur Tanz-Gala am Samstag, den 12. Oktober um 19 Uhr ins Aalto-Theater Essen ein. Im Rahmen der Tanz-Gala 2024 wird der Deutsche Tanzpreis an Sasha Waltz verliehen. Dieter Heitkamp wird mit einer Ehrung für das Lebenswerk ausgezeichnet. explore dance – Netzwerk Tanz für junges Publikum wird für herausragende Entwicklung im Tanz geehrt. Hier geht es direkt zum Tanz-Gala-Programm. 

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