Stuttgarter Ballett

Werke: WA "Apollo", EA "Now and Then", WA "das siebte blau"

Stuttgart, 18/02/2001

Zwanzig Jahre lang war George Balanchines Meisterwerk „Apollo“ nicht mehr im Repertoire des Stuttgarter Balletts. Das waren mindestens neunzehn zu viel. Denn dieses unvermindert hochmoderne Schlüsselwerk des neoklassischen Tanzes aus dem Jahre 1928 zur Musik von Igor Strawinsky ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verstehen des heutigen Tanzes. Wer wirklich begreifen will, was zum Beispiel Hans van Manen und William Forsythe tun, ja sogar wer beim Anschauen von John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ an den richtigen Stellen lachen will, der muss „Apollo“ kennen.

Dass die Stuttgarter Compagnie die Wiederaufnahme dieser Choreografie an den Beginn ihrer jüngsten Premiere gestellt hat, ist also ein wichtiger Schritt in jene Richtung, die ihr Chef Reid Anderson häufig zu einer seiner Aufgaben erklärt hat – dem Publikum zu zeigen, was es sehen muss. Anders als sein Vorgänger John Cranko, der die Stuttgarter Erstaufführung im Jahre 1967 mit seinen besten Ballerinen besetzte, vertraut Anderson auf den Nachwuchs. Und er tut Recht daran. Denn obwohl Nanette Glushak vom Balanchine-Trust das Stück einstudiert und damit seiner Interpretation sozusagen das Echtheits-Gütesiegel verliehen hat, ist der hiesige „Apollo“, er wird übrigens mit Prolog und Epilog getanzt, von sehr anderem Charakter als jener, den man bei Balanchines einstiger Truppe, dem New York City Ballet, zu sehen bekommt.

Ihm ist nicht dessen marmorne Perfektion zu Eigen, sondern er trägt den für Stuttgart typischen, individuellen Firnis. Seine Götter sind Götter mit menschlichen Zügen. Sie drücken ihre Gefühle nicht nur mit choreografischen Chiffren, sondern mit ihrem ganzen Körper und beredten Gesichtern aus. Die blutjunge Alicia Amatriain springt als Terpsichore mit entrückter Miene um Apollo herum, als sei sie ein übermütiges Füllen; die Freude darüber, Apollo mit der Gabe des Tanzes beschenken zu dürfen, sprüht ihr aus allen Poren. Roberta Fernandes (Polyhymnia) und Oihane Herrero (Calliope) sind von einer derart berückenden, warmherzigen Grazie, dass man spätestens nach ihrem harmonieseligen Duo gerne glauben mag, aus dieser innigen Vereinigung von Musik und Dichtung sei einst die Oper entstanden.

Robert Tewsley in der Titelpartie sieht aus und tanzt wahrlich wie ein junger Gott, kraftvoll, ungebärdig, ungeduldig, und am Ende in der Tat von apollinischer Vollkommenheit. Der „Apollo“ ist zum dramatischen Handlungsballett geraten, zum idealen Proklamator des neoklassischen Tanzes.

Wie außerordentlich noch immer Balanchines Einfluss selbst auf das Ballett unserer Tage ist, das zeigt die „Apollo“ folgende Stuttgarter Erstaufführung von John Neumeiers „Now and Then“, das er im Jahre 1993 für das Kanadische Nationalballett kreierte, seinerzeit von Anderson geleitet. Auf der von Zack Brown mit sattroten Hängern ausgestatteten Bühne vollzieht sich die wahre Geschichte des Lebens, zumal des Ballettlebens. Eine gereifte Ballerina (Elena Tentschikowa) strebt unaufhaltsam einer Grenzlinie zu, während um sie herum das junge Volk in roten Ringertrikots fiebrig und voller Erwartungen mit Überschlägen, weiten Sprüngen und virilen Partneraktionen seine unerschöpflichen Kräfte demonstriert. Als sie die Grenze überschritten hat und es trotz aller Anstrengungen kein Zurück mehr gibt, da schaut sie schmerzvoll und resigniert ihrer Nachfolgerin Bridget Breiner zu, die in den Armen von Thomas Lempertz die pure Tanzpoesie zeigt. Und Robert Conn, gerade noch in einem bewegenden Pas de deux ihr nichts verstehender und nichts erkennender Partner, bemüht sich bereits um Breiner. Aber auch diese beiden haben schon in Alicia Amatriain und Douglas Lee Kollegen, die ihnen buchstäblich in den Hacken stehen.

Zum swingenden Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel ist Neumeier ein für ihn ganz ungewohnt schnörkelloses Stück gelungen, das virtuos den tänzerischen Aplomb der Gruppe und die gestalterische Allüre der Ballerina zu einer sehr humanen Geschichte vereint. Und die Stuttgarter Tänzer wissen diese Chance durchaus für sich zu nutzen. Wer allerdings Karen Kain in der Premierenbesetzung gesehen hat, eine Tänzerin, die mit dem Heben ihres Kopfes einen Saal zum Aufmerken bewegen konnte, der erkennt, welches Potenzial in Stuttgart noch nicht ausgespielt worden ist. Glenn Prince spielt den Solopart mit dem genau richtigen Drive, und das Staatsorchester ist bei James Tuggle in den besten Händen, wenn es darum geht, diese jazzbefeuerte Musik zu einem Power-Treibsatz für die Bühne zu machen.

Zum Schluss die Wiederaufnahme von Christian Spucks „das siebte blau“, jenem Ballett dynamischer Amplituden also, das im vergangenen April leider mit aus dem Repertoire verschwunden ist, weil das katastrophal schlechte Premierenprogramm, in dem es als einziges Erfolg hatte, wegen Publikumsmangels abgesetzt werden musste. Beim Wiedersehen hat diese schmissige Choreografie eher noch an jugendlicher Attraktivität gewonnen, wenngleich ihr jetzt eine gewisse dekorative Glätte anzuhaften scheint. Und Zweifel kommen auf, dass der zum Teil unbekümmert flapsige Umgang mit den Auszügen ausgerechnet aus Schuberts „Der Tod und das Mädchen“, von Kathrin Scheytt, Michael Wille, Burkhart Zeh und Zoltan Paulich blendend gespielt, wirklich angebracht ist, namentlich im Finale. Dennoch, ein furioses Stück und eine insgesamt hoch zu lobende Premiere.

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