Zwei neue Besetzungen für „Edward II.“
Ein Lunapark voller Attraktionen
In der Stuttgarter Edward-Ballettgenealogie fungiert Douglas Lee zwar erst an dritter Stelle, doch eigentlich ist er noch vor Roland und Friedemann Vogel die Nummer eins. Mit ihm und Bridget Breiner als seine Gemahlin Isabella gewinnt die Wiederaufnahme von David Bintleys „Edward II.“ eine Tiefenschärfe und psychologische Vielschichtigkeit, wie sie nicht einmal die Uraufführungsversion von 1995 besaß. Erst mit ihnen in den beiden Hauptrollen rücken die außerordentlichen Qualitäten dieses Balletts ins rechte Licht – nicht zuletzt auch die musikalische Dichte und Stimmigkeit der Auftragskomposition von John McCabe, die in dieser, der siebten von acht Vorstellungen en suite von Willem Wentzel dirigiert wird – vor wieder bis auf den letzten Platz besetztem Haus. Und hier ist nun auch ein Kompliment an das Stuttgarter Publikum überfällig. Denn wo wäre das sonst noch bei uns denkbar: ein und dasselbe Ballett, das in acht Vorstellungen am Ende der Spielzeit jedes Mal vor so gut wie ausverkauftem Haus gegeben wird – mit drei Besetzungen in den Hauptrollen? Allenfalls Hamburg könnte da wohl mithalten.
Nicht alle Umbesetzungen tragen zum Qualitätszuwachs dieses Balletts bei. Mehr denn je zuvor bin ich überzeugt, dass die relative Anonymität der Rolle des Gaveston – das ist Edwards erster Liebhaber – damit zusammenhängt, dass sie choreografisch allzu eindimensional als Glamourboy mit Cheesecake-Lächeln angelegt ist – und bei Despenser, Edwards Loverboy Nummer zwei, verhält es sich nicht anders.
Individualität ist hier nicht programmiert, und so ist es relativ gleichgültig. ob Gaveston von Ivan Gil Ortega oder Filip Barankiewicz getanzt wird oder Despenser von Friedemann Vogel, beziehungsweise Wieslaw Dudek – hübsche Jungs sie alle und exzellente Tänzer, aber eben doch mehr oder weniger anonym.
Dagegen sind die beiden Mortimers grundverschieden: Robert Conn als auftrumpfender Macho und Jiri Jelinek als eher intellektueller, leicht mefistofelischer Verführer. Ach, wenn sich Bintley doch zu einer Überarbeitung dieses Balletts entschließen könnte – vor allem zu Kürzungen im allzu lange sich hinziehenden zweiten Akt (dann will ich ihm gern auch die mir herzlich gleichgültigen Fauvel-Gaukler und den penetranten Sensenmann zugestehen).
Dagegen ist die Rolle von Isabellas Hofdame exakt durchgezeichnet – und Vanessa Valdueza Tauroni tanzt sie mit steiflippiger Pikiertheit. Was für ein Knüller steckt doch in diesem Ballett, dass die Stuttgarter, so meint man, leicht vermarkten könnten als ein Kultstück für die weltweite Schwulen-Gemeinde! Doch es sind an diesem Abend Lee und Breiner, die das Ballett in die Kompetenz Marlowes, ja Shakespeares katapultieren! Lee ist auch als bis über beide Ohren in seinen Günstling Gaveston verliebter Edward jeden Zoll von königlichem Blut – ein Verwandter des Hamlet, so differenziert changiert er zwischen seinen Rollen als König und als Liebhaber. Und so tanzt er ihn bravourös: ein königlicher Charakter bis in die Fußspitzen, mit einer Skala von Nuancen, die von überströmender Spontaneität und Unbefangenheit bis zu den Folterqualen seiner Hinrichtung reichen. Ein tragischer Held!
Breiner lässt auch schon als ergeben sich in ihr Los als ungeliebte Gattin im Dienste der politischen Vernunft sich schickende Königin ahnen. Welch ein Feuer an Leidenschaft in ihr schwelt, das sie dann an der Spitze ihres Invasionsheeres und als Rächerin ihres Geschlechts zu hell auflodernder Glut entfacht, dabei ihre auf Hochglanz polierte Technik gleichsam als Cruise Missiles einsetzend. Da tanzen in Stuttgart zwei Ballettstars von Shakespeare-Format, und eine knisternde Spannung erfüllt das Haus, von der unsere Tanztheaterspezis nur träumen können. Was hätte der Shakespeare-Verehrer Noverre da wohl für Augen gemacht, wenn er sehen könnte, was aus seinem Stuttgarter Ballett von herzoglichen Gnaden geworden ist!
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