Portrait von Joaquín Cortés

„Ich lebe nur für meinen Tanz“

Stuttgart, 22/01/2002

„Um die Wahrheit zu sagen“, Joaquín Cortés blickt kurz nach unten, als müsse er sich einen Ruck geben, „ich finde den traditionellen Flamenco langweilig.“ Das solle allerdings nicht heißen, fügt er schnell hinzu, dass er den herkömmlichen Flamenco ablehne oder ihm gar die Zukunft abspreche. Schließlich hat er seine eigene Kunst und seinen weltweiten Erfolg aus diesem Tanz der spanischen Zigeuner bezogen. Aber seine Sache ist er nun mal nicht. Oder nicht mehr. Cortés will vielmehr dem Flamenco eine neue und moderne Dimension geben, ihn weniger streng, schematisch und rätselhaft tanzen, damit ihn jedermann sofort versteht und von ihm mitgerissen wird. Ja, das sei vielleicht, oder sogar sicher, eine Popularisierung, aber was ließe sich eigentlich dagegen einwenden? Cortés: „Ich will das ursprüngliche Herz des Flamencos zeigen!“

Wenn man sich über Joaquín Cortés, den „König des Flamenco“, im Internet informieren will, dann muss man sich erst durch einen Wust von Meldungen wühlen, die ihn mit diesem und jenem Top-Model in Verbindung bringen und die über bevorstehende Hochzeiten mit Hollywoodstars spekulieren, bis man zum Künstler Cortés vorstößt. Was wird der für einer sein, ein arroganter, verwöhnter Star? Joaquín Cortés ist richtig nett. Als ihm bei der Abfahrt vom Hotel eine junge Angestellte besonders sehnsüchtig nachblickt, da läuft er noch einmal fünf Meter zurück und küsst sie auf beide Wangen. Und als seine Managerin während der verspäteten Fahrt zum Flughafen mitten im Stau die Nachricht erhält, die Maschine nach Frankfurt sei gerade gestartet, da nimmt er seine Hände wie ein Fernglas vor die Augen und winkt fröhlich mit dem Ende seines Schals: „Bye, bye!“ Ob er sich nicht über den Anschlussflug nach Moskau sorge? „Aber nein. Ich mache mir ums Tanzen Sorgen. Für den Rest sind andere da. Der lässt mich kalt.“

Joaquín Cortés, im Jahre 1969 in Cordoba geboren und nach seiner Ausbildung zunächst Tänzer beim Spanischen Nationalballett, machte sich bald als Partner großer Stars einen Namen. Im Jahre 1992 gründete er eine eigene Truppe, mit deren zweiter Produktion „Pasión Gitana“, die vor drei Jahren auch in Stuttgart zu sehen war, er den internationalen Durchbruch erzielte. Seither gilt Cortés als unbestrittener Herrscher über das Reich des modern gestylten Flamencos. „König des Flamenco, Flamenco-Magier - über derartige Etiketten mache ich mir keine Gedanken“, sagt er etwas unwillig und streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht, „die erfinden irgendwelche Veranstalter - sollen sie damit glücklich werden. Ich tanze.“ Jetzt geht Cortés mit seiner neuen Show „Live“ auf Europatournee und wird mit ihr am 24. Januar im Stuttgarter Hegelsaal Station machen.

Worin wird sich diese Show von der früheren unterscheiden, abgesehen davon, dass sie eben neu ist? Vor allem habe er sich jene Kritiken zu Herzen genommen, die bemängelten, dass er selbst zu selten getanzt habe. Das sei damals zwar dramaturgisch wichtig gewesen, aber gut. Jetzt wird Cortés während achtzig der etwa neunzig Aufführungsminuten auf der Bühne sein. Die Lichtchoreografie von Juanjo Beloqui ist noch mehr auf die Gesamtwirkung der Show abgestimmt, wie auch die eigens komponierte Musik für das achtzehnköpfige Orchester. Und die Kostüme in schwarz, weiß, silber und dunkelrot hat gar Giorgio Armani entworfen.

Soll das heißen, dass er nicht mehr mit freiem Oberkörper auftreten wird? „Nein, natürlich nicht“, Cortés schmunzelt belustigt, „meine Show ist sehr emotional, und deshalb gehören auch solche Auftritte zu ihr. Ich werde wegen dieser Dinge oft als Popstar bezeichnet, aber für mich ist das wirklich Kunst mit den Mitteln und Effekten unserer Zeit. Ich will eben alle Sinne meiner Zuschauer anstacheln. So ist das.“ In der Werbung für „Live“ wird häufig von Cortés als Matador gesprochen. Ist er ein Stierkampf-Liebhaber? Nein, das sei er ganz und gar nicht. Nicht etwa, weil sich das außerhalb Spaniens nicht so gut mache. Aber schließlich seien vermutlich auch nicht alle Deutschen nach Fußball verrückt. Dieses Bild soll eher vermitteln, dass ein Matador den Stier, in diesem Falle also das Publikum, in gewisser Weise zu seinem Partner machen muss. Beide müssen sich völlig hingeben, eine Einheit werden. Seine Zuschauer zu lenken, sie für anderthalb Stunden zu beherrschen, sodass sie für nichts anderes mehr empfänglich sind, als für das, was auf der Bühne geschieht, das ist sein Ziel.

Das klassische Ballett vermisst Cortés nicht mehr. Das war schön, und er war auch erfolgreich damit, aber es ist endgültig Vergangenheit. Am Film hat er weiterhin großes Interesse. Nicht nur an reinen Tanzfilmen, wie dem berühmten „Flamenco“, in dem er mit einem Auftritt vertreten war, sondern vor allem an Spielfilmen, etwa von Pedro Aldomóvar und Carlos Saura, mit denen er schon gedreht hat. Die haben ihn übrigens von sich aus angesprochen, weil sie Fans von ihm sind. Doch, deren etwas merkwürdiger Humor liege ihm sehr, irgendwie trifft er eine besondere Ader in ihm. Warum nicht weitere Filme machen!

Joaquín Cortés hat wirklich Schwierigkeiten mit seinen Haaren, die er fortwährend aus dem Gesicht streichen und hinter die Ohren klemmen muss. Aber ohne diese lange Mähne und den schweißüberströmten Oberkörper wäre er eben nur der halbe Cortés. Und so beantwortet er brav und bereitwillig alle Fragen, scheint bei jeder einen Augenblick nachzudenken, als ob sie ihm noch nie zuvor gestellt worden wäre. Er ist wirklich ein netter Bursche, freundlich, liebenswürdig, stets zu kleinen Scherzen aufgelegt, Damen lächelt er besonders herzlich an, und jede Kamera bekommt ihre eigene Grimasse zugedacht. Kaum zu glauben, dass sich dieser patente junge Mann von nebenan auf der Bühne in eine Tanzeruption verwandeln wird, außer Rand und Band geraten, mit Blitze schleudernden Augen und rasenden Füßen, dessen glühende Leidenschaft selbst in den hintersten Reihen der größten Hallen noch sengende Feuer der Begeisterung und Bewunderung entfacht. Aber das ist die reine Wahrheit.

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