Neue Konstellationen in „Romeo und Julia“
Nurejews Shakespeare-Ballett in der Opéra Bastille
In seiner Version von „Romeo und Julia“ scheint Rudolf Nurejew der Literaturgeschichte ebenso treu bleiben zu wollen wie der Ballettgeschichte. Dies wird offensichtlich an zahlreichen Details, die er aus Shakespeares Stück übernimmt und die in anderen Versionen nicht oder nur selten auftauchen, wie beispielsweise Romeos Schwur, das Scheitern der Übergabe der Nachricht an Romeo oder die Versöhnung der beiden Familien am Grab. Auch die bei Shakespeare in zahlreichen Dialogen präsente Obszönität kommt hier voll zur Geltung, wobei diese in einer visuellen Kunst wie dem Tanz noch viel stärker wirkt als in der Literatur.
Diese relative Stücktreue ist dem Ballett nicht nur zuträglich. Aufgrund des Detailreichtums, der der Literatur ungleich angemessener ist als dem Tanz, droht der Zuschauer zuweilen die Haupthandlung aus den Augen zu verlieren. Weniger gelungen sind auch die langen, etwas eintönigen Marktszenen und die zahlreichen von Nurejew erfundenen allegorischen Details, die das Stück nur noch zusätzlich beschweren: der sterbende Bettler, die halbnackte Allegorie des Todes, die vier Gestalten, die zu Anfang und Ende des Stückes über die Bühne huschen. Interessant ist dafür die Idee, Tybalts und Mercutios Geister auftreten zu lassen, um Julia in ihrer Wahl von Dolch oder Gift zu beeinflussen, eine Szene, die sehr an andere Shakespearestücke wie Hamlet oder Macbeth erinnert.
In der diesjährigen Premiere an der Pariser Oper durfte der Zuschauer zwei bemerkenswerten Rollendebüts beiwohnen: Aurélie Dupont als Julia und Hervé Moreau als Romeo. Erstere, eine der strahlendsten Etoiles der Kompanie, meisterte ihre Rolle mit Bravour, technischer Perfektion und bemerkenswertem Charisma, Hervé Moreau, ein junger Premier Danseur mit einer exzellenten Linie, tanzte sich ebenfalls gekonnt durch alle Schwierigkeiten. In den anderen Rollen konnte man Wilfried Romoli als wahrhaft dämonischen Tybalt und Florian Magnenet als arroganten Paris mit einem Hang zur Brutalität erleben.
Alessio Carbone war ein ausgezeichneter Mercutio, schelmisch, überlegen, mit tadelloser Technik, der, ohne je zu übertreiben, der Rolle Glaubwürdigkeit und Tiefe zu verleihen wusste. An seiner Seite überzeugte auch Karl Paquette als Benvolio. Unter den weiteren Nebenrollen ist Nathalie Riqué als charmante Rosaline hervorzuheben, das Corps zeigte sich wie meist in guter Form. Ein besonderer Höhepunkt war dieses Jahr auch die Zweitbesetzung mit Benjamin Pech und Elisabeth Maurin, der letzten von Nurejew ernannten danseuse étoile, die am 29. Juni zum letzten Mal als solche auf der Bühne der Pariser Oper stand. Sie verstand es, Julias Charakter Leidenschaftlichkeit und emotionale Tiefe zu verleihen und die Entwicklung vom naiven, begeisterungsfähigen jungen Mädchen zur verzweifelten, gegen ihr Schicksal rebellierenden Liebenden sehr überzeugend auszudrücken. Benjamin Pech zeigte sich an ihrer Seite als sensibler Romeo mit souveräner Technik und einem sehr nuancierten Spiel. Kein Wunder, dass bei der Begegnung dieser beiden talentierten Schauspieler einige besondere Momente bewegender Emotion zustande kamen, vor allem die erste Begegnung der beiden Liebenden, die Szene nach Tybalts Tod und die Schlussszene in der Gruft.
Auch die Nebenrollen waren brillant besetzt - Laurent Hilaire als aristokratischer, messerscharfer Tybalt, Emmanuel Thibault als federleichter Mercutio, und Josua Hoffalt als etwas naiver, eher enttäuschter als autoritärer Paris.
Die außergewöhnliche Vorstellung und die lange und glänzende Karriere Maurins wurden vom sonst eher zurückhaltenden Pariser Publikum durch Standing Ovations, tosenden, nicht enden wollenden Applaus und zahllose Blumensträuße belohnt. Schließlich regnete es noch Konfetti und die Kompanie fand sich fast vollständig ein, um ihrer Kollegin zu gratulieren. Vielleicht wird man Maurin - wie Laurent Hilaire, der ebenfalls bereits die Kompanie verlassen hat - ja in Zukunft noch als Gast an der Pariser Oper erleben dürfen.
Besuchte Vorstellungen: 25.6. und 29.6.
Bis zum 14.7. in der Opéra Bastille
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