Neue Konstellationen in „Romeo und Julia“

Nurejews Shakespeare-Ballett in der Opéra Bastille

Paris, 13/04/2011
Man hört oft (und liest im Programmheft der Pariser Oper), Rudolf Nurejews „Romeo und Julia“-Ballett aus dem Jahr 1984 sei eine der Shakespeare-getreuesten Versionen. Warum das? Weil Nurejew Szenen zeigt, die in vielen anderen Versionen weggelassen werden, beispielsweise den Tod des Boten oder Romeos Entsetzen, wenn er von Julias scheinbarem Ende erfährt. Weil er wie Shakespeare neben der lyrischen Zartheit und Poesie der Liebesgeschichte das Niedere, Brutale und Vulgäre nicht ausspart in seiner Inszenierung, die sich vor schwerer prächtiger Renaissancearchitektur entfaltet (Bühnenbild und Kostüme: Ezio Frigerio). Doch erhält man dadurch wirklich ein Stück, das die Atmosphäre von Shakespeares Tragödie besser widerspiegelt als beispielsweise Crankos Version, die Nurejew durch seine Fassung im Repertoire der Pariser Oper ersetzte? In mancherlei Hinsicht gewiss: man könnte beklagen, dass Tod und Verzweiflung in anderen Versionen zu ballettös-ästhetisiert erscheinen und dass viele Handlungsstränge und Details dort verloren gehen. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass die Kunst des Choreografen nicht zuletzt in der Auswahl und Kondensierung besteht. Zudem kümmert es Nurejew wenig, dass lässig hingeworfene Phrasen und Metaphern leicht grotesk wirken können, wenn man sie auf der Ballettbühne visualisiert. So wird beispielsweise Julias Furcht, mit dem Tod statt Romeo vermählt zu werden, durch einen nackten Tod dargestellt, der mit ihr ins Bett steigt – für den uneingeweihten Zuschauer kaum verständlicher als die Würfelspieler, Pestopfer, Bettler und andere Schicksalsboten, die an jeder Ecke lauern. Nurejews Version zeichnet sich nicht nur durch eine komplizierte Verstrickung von Realität, Traum und Symbolik aus, sondern auch durch eine Rohheit, die kaum durch Texttreue zu rechtfertigen ist. Er lässt keine Gelegenheit aus, auf dem Marktplatz stramme Burschen sich gegenseitig in teilweise unmusikalischen Auseinandersetzungen mit obszönen Gesten beschimpfen und prügeln zu lassen und verfehlt dabei den Witz Shakespearescher Wortgefechte. Da er weder an Anekdoten und Allegorien noch an virtuosen Schrittfolgen für zahlreiche – meist männliche – Protagonisten spart, verliert das Ballett an dramaturgischer Dichte. Die Haupthandlung wird zu einem dünnen Fluss in einer weiten Landschaft, die so bedeutungsgeladen sein will, dass am Ende die Bedeutung verloren geht. Zudem behindert die halsbrecherische Technik den authentischen Gefühlsausdruck, da die Tänzer zuweilen hektisch hinter der Musik hereilen. Die viel gerühmte Theatralik des Stückes überschreitet oft die Grenze zur pompösen Künstlichkeit, bei der kaum ein Impuls aus dem Inneren der Figuren zu kommen scheint. Denn im Endeffekt legt Nurejew trotz aller übersprudelnden Narrativität den größten Wert darauf, die virtuose Technik seiner Protagonisten zur Schau zur stellen. In dieser Hinsicht glänzte das Ballett in der jetzigen Wiederaufnahme durch eine Reihe sehr guter Interpreten. Der freche und sprunggewaltige Mathias Heymann bildete als Mercutio einen ideal leichtfüßigen Gegenpart zu Stéphane Bullions mächtigem, wutschnaubenden Tybalt, der im Spiel mit seiner Cousine am Anfang doch genug Menschlichkeit bewies, um Julias rasendes Verfluchen Romeos nach dem Mord verständlich zu machen. Nurejew charakterisiert diese Figur glaubhaft und schafft einige optisch reizvolle Gefechtsszenen. Myriam Ould-Braham war bezaubernd als flatterhafte Rosaline und Julien Meyzindi überzeugte als stattlicher, aber gefühlloser Paris. Das Hauptpaar tanzte heroisch gegen die bunten Massen an, die ausgelassen um sie herumwirbelten. Laetitia Pujol, anfangs etwas unnatürlich, da sie übertriebene Jugendlichkeit mimte, gewann schauspielerisch im Laufe des Stückes erheblich an Sicherheit: sie wirkte am Ende wie ein gehetztes Tier, das in seiner Qual keinen anderen Gedanken kennt als die Sehnsucht nach Romeo. In dieser Rolle gab Mathieu Ganio ein eindrucksvolles Debüt: sorglos-frech in seiner Werbung um Rosaline, poetisch in der Entdeckung seiner Liebe zu Julia und schließlich besinnungslos rasend, wenn er vor Schmerz über Julias Tod rückwärts in Benvolios Arme springt. Besonders im letzten Akt, getragen von Prokofjews tiefbeseelter, eloquenter Musik, finden die von jugendlicher Unschuld strahlenden Liebenden zu berührender Harmonie. So gelingt es Ihnen, die Essenz von Shakespeares Tragödie sichtbar zu machen – die absolute Liebe, die der Tanz so gut auszudrücken vermag.
Besuchte Vorstellung: 11.04.11 www.operadeparis.fr

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