Probelauf mit Grashüpfern

Uraufführungen von Christian Spuck und Douglas Lee beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 03/03/2007

Große schwarze Heuschrecken stehen in einem grauen Raum, am Rande fällt Schnee. Die Tänzer tragen mächtige spitze Hüte und lange Frackschöße, sie verstecken sich als anonyme Figuren hinter überhohen Kragen oder unter dem Tanzteppich. In Christian Spucks neuem Ballett geht es um die sogenannten „Schläfer“, um Intriganten und Hinterlistige, die sich unter der harmlosen Menge verbergen. Zusammen mit einem neuen Stück von Douglas Lee wurde „Sleepers Chamber“ im Stuttgarter Schauspielhaus uraufgeführt, ergänzt durch Hans van Manens zwanzig Jahre altes „Corps“.

Wie immer bei Spuck wirkt sein Stück sehr ästhetisch und atmosphärisch, aber wie so oft ist der Zusammenhang zwischen Idee und choreografischer Umsetzung nur schwer zu erkennen. Wohl formieren sich die Tänzer manchmal zu Gruppen, tanzen parallel oder zu zweit, aber der Gegensatz zwischen Schläfern und schützender, „normaler“ Menge wird nicht deutlich. Auch choreografisch gibt es kaum einen Unterschied zu Spucks vorherigen Stücken; neu ist einzig eine Art kodifizierte, roboterhafte Zeichensprache mit den Armen, die von den Tänzern im Sitzen ausgeführt wird. Martin Donners Musik zitiert Cembalo, Choral und Rockklänge, um dann im bekannten elektronischen Wummern der Forsythe-Schule zu enden. Ständige Lichtwechsel bis hin zum völligen Verdämmern setzen Zäsuren, bevor die Tänzer am Schluss langsam einzeln in Posen einfrieren.

Auch Douglas Lee - in Stuttgart theoretisch als Erster Solist engagiert, faktisch aber der dritte Haus-Choreograf neben Spuck und Marco Goecke - bleibt sich treu. Sein neues Stück „Dummy Run“, übersetzt in etwa wie „Probelauf“, kombiniert erneut eine minimalistische Ausstattung mit introvertiertem Tanz auf Spitze, entwickelt sich aber immerhin dynamisch abwechslungsreicher die letzten Werke des Briten. Es scheint zunächst, als tanzten wirklich Dummies auf der dunklen, nach sehr weit hinten spitz zulaufenden Bühne, denn es sieht unmenschlich und maschinengleich aus, wie sich Linda Waasdorp anfangs wie eine Schaufensterpuppe aus Hartgummi verbiegt. Später findet Lee doch zu seinem depressiv nach innen knickenden Stil zurück. Wie bei Spuck wird in den verschiedensten Kombinationen getanzt - parallel, in Dreier-Gruppen oder irgendwie nebeneinander her.

Die spröde Musik stammt vom Postminimalisten David Lang und vom Stuttgarter Komponisten Frank Henne. Ein einsames weißes Licht erhellt die Würfelpodeste auf der traurig-schwarzen Bühne, ein Zwischenvorhang fällt auf die Schultern dreier Tänzer. Mit viel Hingabe kann man sicher die minimalen Bewegungsunterschiede zwischen Spuck und Lee herausfiltern, aber beide Stücke wirken wie zufällige Ausschnitte aus dem beliebigen Bewegungsfluss einer vergeistigten Nach-Forsythe-Ära, die 180-Grad-Splits und Beckenverschiebungen durch Ideenballast eintrübt. Beide setzen auf Atmosphäre statt auf die Kraft der Choreografie.

Somit bleibt als Abschluss und Höhepunkt des Abends Altmeister Hans van Manen, der selbst mit einem seiner weniger gelungenen Stücke den Jüngeren vormacht, wie man Assoziationen evoziert, wie man mit wenig Bewegung viel Spannung entstehen lässt, wie man ein Stück klar strukturiert. Rein musikalisch betrachtet tritt sein 1985 in Stuttgart entstandenes Stück „Corps“ eher Alban Bergs Violinkonzert gegenüber, als dass es dessen emotionaler Zwölfton-Innerlichkeit kongenial nachfühlt. Denn van Manen setzt Bergs Widmung „Dem Andenken eines Engels“ die merkwürdige Konstellation eines 12-köpfigen Männer-Corps entgegen, aus dem heraus drei Solisten nacheinander Pas de deux mit drei verschiedenen Frauen tanzen - oder mit drei Verkörperungen derselben Frau, wie man es betrachten will.

Etwas martialisch sehen diese 12 Männer aus mit ihren Ledergürteln über schwarzen Trikots, fast wie moderne Gladiatoren. Zusammengedrängt grollen sie mit gesenkter Stirn im Hintergrund und holen jeden Flüchtling ins Kollektiv zurück, zum Schluss sogar die kühl-erhabene Todesfigur, die Sue Jin Kang so majestätisch entwirft. Mit einer zarten Handbewegung wischt ihr Marijn Rademaker das wissende Lächeln vom Gesicht - eine winzige Geste mit maximaler Wirkung, ähnlich wie der Schluss des rätselhaften, für van Manens strenge Ästhetik doch leicht schwülstig geratenen Balletts: Auf den letzten hohen Ton der Violine scheint ein blasses Licht in der Höhe auf und das Männerkollektiv hebt langsam die Köpfe nach oben.

Vielleicht fragen sie sich wie die Zuschauer, warum ein zwanzig Jahre altes Ballett das Licht am Ende des Tunnels ist. Die Stuttgarter Tänzer aber müssen sich den strengen van-Manen-Stil erst wieder erarbeiten; so klar und elegant wie bei Elisa Carillo Cabrera sieht er lange nicht bei allen aus. Obwohl man sich im Programmheft brüstet, rund ein Viertel von van Manens über 100 Stücken im Repertoire zu haben, wurden in den zehn Spielzeiten unter Reid Anderson gerademal vier davon getanzt. Das deutsche Zentrum der van-Manen-Pflege liegt längst in Mainz.
 

Link: www.stuttgart-ballet.de

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