Unsterblicher Hamlet in Augsburg
Pick bloggt über „Hamlet“ von Stephen Mills mit Musik von Philip Glass am Theater Augsburg
… doch die letzte Etappe verfehlt: Kevin O'Days Ansturm auf den Mount „Hamlet“
Hamlet oder Nicht-Hamlet: das ist KEINE rhetorische Frage, denn die Ballettgeschichte von 1788 (Clerico: „Amleto“, Venedig) bis 2008 (David Nixon, „Hamlet“ im Nazi-besetzten Paris, Northern Ballet Theatre in Leeds) sollte eigentlich lehren: Ballettleute, lasst die Finger von Shakespeares „Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmark“. Selbst der Shakespeare-erfahrene John Neumeier hat sie sich bereits dreimal verbrannt (zuerst 1976 beim American Ballet Theatre mit den Superstars Baryschnikow, Kirkland, Bruhn und Haydée). Und auch den jüngsten tanztheatralischen Bemühungen (Linke, Schloemer, Kurz) ist es nicht besser ergangen. Lediglich zwei choreografische Adaptionen haben sich etwas länger auf dem Spielplan gehalten: Robert Helpmanns 1942 fürs damalige Sadler's Wells Ballet kreierte Kurzfassung (als Rückblende im Moment von Hamlets Sterben – mit ihm selbst und Margot Fonteyn) und Boris Blachers mit Tatjana Gsovsky erarbeitete Berliner Version (mit Gert Reinholm und Gisela Deege, die in den fünfziger und sechziger Jahren einer der großen Nachkriegserfolge des deutschen Balletts war, 1954 übrigens auch in Stuttgart).
Achtundzwanzig Jahre nach der Uraufführung von Hermann Reutters „Hamlet“, Schauspiel für Musik, in der Stuttgarter Staatsoper (Choreografie: Uwe Scholz) nun also der abermalige Versuch, sich dieses Himalaya des Shakespeareschen Gebirgsmassivs zu bemächtigen – diesmal wieder mit dem choreografischen Instrumentarium, wie es Kevin O'Day in seiner langjährigen amerikanisch-europäischen Praxis mit seinem ständigen Geräusch-Kollaborateur John King entwickelt hat – mit Jason Reilly, dem kanadischen Tanzchampion, in der Titelrolle, assistiert von seinen Stuttgarter Kollegen, einer Equipe tänzerischer Mountaineers, durchaus gewachsen den technischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zwischen Petipa und Forsythe.
Das Ergebnis ist äußerst zwiespältig: ein erster Akt, bei dem man Schwierigkeiten hat, zu ergründen wer hier wer ist und warum er eigentlich hier ist (so dass man die Rollen eher über die Tänzer definiert als es normalerweise umgekehrt der Fall ist: dies ist Bridget Breiner, also muss sie wohl die Mutter sein). Und dann ein zweiter, der mit einem rasant choreografierten Fest beginnt – mit Hyo-Jung Kang und Alexis Oliveira als bravourösem Tänzerpaar – und sich dann steigert bis zu den brillant arrangierten Kampfszenen, die Reilly, Evan McKie als Laertes und Laurent Guilbaud als Polonius mit funkenstiebender Elektrizität aufladen, als hätten sie einen Meisterkurs in Tauberbischofsheim absolviert. Bis dahin hat man dann auch Jiří Jelinek als den intriganten Claudius und Alexander Jones als den treuherzigen Freund Horatio identifiziert. Aber das braucht seine Zeit, und so geht man in die Pause wie mit einem unaufgelösten Kreuzworträtsel.
Keinerlei Zweifel verursachen Sébastien Galtier und Mikhail Soloviev als die beiden Buffonisten Rosenkranz und Güldenstern, die geradewegs aus Tom Stoppards Komödie in diese Produktion gelangt scheinen. Und Ophelia, die einzige andere bedeutende Frauenrolle? Als die gibt sich Alicia Amatriain weidliche Mühe, gegen ihren Live-Charakter eine unemanzipierte junge Frau zu sein, die ihrem „Lied vom Weidenbaum“ eine wehe Poesie leiht. Aber man muss Rolf Vollmann Recht geben: „dem Ansturm ihrer halb kindlichen Lust war ihr noch halb kindlicher Verstand nicht gewachsen.“ Und dem Ansturm eines so leidenschaftlichen Tatmenschen, wie ihn Reilly verkörpert, schon gar nicht. Da mögen beide, Hamlet gleich zu Beginn am Grab seines Vaters, und Ophelia noch so händeringend den Himmel bestürmen. Es ist eins der inszenatorischen Leitmotive dieser Produktion, wie das ständige Flüstern (das einem schon bald so auf die Nerven geht wie das ewige Zigaretten-Anzünden im „Baader-Meinhof“-Film). Verwunderlich ist es freilich nicht, wenn doch die Wände in Tatyana von Walsums Einheitsdekor Löcher haben wie ihre porösen Knochenstrukturen.
Nein, als Handlungsdrama überzeugt dieser neue „Hamlet“ nicht! Man sieht die fabelhaft konditionierten Tänzer äußerst virtuos choreografierte Soli absolvieren, nicht zu reden von den geradezu laokoonhaft vertrackten Pas de deux, ohne dass sich dort irgendwelche psychologischen Entwicklungen abspielten – wie etwa in den großen Cranko-Pas-de-deux. Aber dann war der an diesem Abend so abwesend wie der Geist von Hamlets Vater, der sich auch durch die von James Tuggle und dem Staatsorchester beschworenen Noise-Rituale nicht dazu bewegen ließ, dem jüngsten Stuttgarter Abendfüller seinen Segen zu erteilen. Und so beantwortet diese neue Produktion letzten Endes die entscheidende Hamlet-Frage mit einem klaren: Better not!
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