Von fetten Faunen und Männern in Kisten

Sidi Larbi Cherkaouis „Sutra“ dominiert das Tanzprogramm der Festspiele von Avignon

Avignon, 14/07/2008

Beim Festival d’Avignon hat nie der Tanz, sondern immer schon das Theater die erste Geige gespielt. Aber unwichtig ist der Tanz für die Festspiele von Avignon auch nie gewesen. Vor 40 Jahren, etwa, im unruhigen Jahr 1968, als die Festspiele eine ihrer größten Krisen erlebten und es fraglich war, ob sie die Tumulte auf Bühnen und Podien überleben würden, war das Gastspiel von Maurice Béjarts Ballett du XXe Siecle mit Stücken wie „Bakhti“, „Ni fleurs ni couronnes“, „Messe pour le temps présent“ und dem unvergleichlichen „Sacre du printemps“ einer der künstlerischen Höhepunkte des Festivals: ein Ereignis, dem Avignon 2008, auch im Gedenken an Béjarts Tod, eine Ausstellung in der Maison Jean Vilar widmet. Da sieht man dann auf Filmausschnitten, Plakaten und Fotos die großen Tanzstars von damals, Béjart selbst, Jorge Donn, Paolo Bortoluzzi, Hitomi Asakawa, Duska Sifnios, in jenen Posen und mit jenen Bewegungen, die sich dem Gedächtnis einfürallemal eingeprägt haben. Aber man sieht auch Judith Malina und Julian Beck, die Galeonsfiguren des Living Theatre, das in jenen Jahren die Speerspitze einer neuen theatralischen Ästhetik bildete, nicht zu vergessen den Festival-Direktor Jean Vilar, wie er inmitten nackter und bekleideter, auf jenen Fall aber wütender junger Menschen, sein Credo verkündete: Avignon darf nicht sterben.

2008 ist das Festival von Avignon von solchen wilden Zeiten weiter entfernt als nur jene 40 Jahre, die seitdem vergangen sind. Auch das Tanzprogramm backt vergleichsweise kleine Brötchen und geniert sich nicht einmal eines Stücks mit dem Titel „Faune(s)“, in dem ein übergewichtiger, um nicht zu sagen: fetter Komiker namens Olivier Dubois nicht nur allen Ernstes versucht, Waslaw Nijinskys Choreographie von „L’Après-midi d’un faune“ von 1912 nachzuspielen, sondern sich, immer auf der Suche nach einem Orgasmus – im Film – auch als Kunde käuflicher junger Männer versucht, als Jäger seine Gelüste in ein Waldhorn röhrt oder als riesiger gehörnter Bock die Bühne mit einem braunen Kunstfell überzieht. Doch hat Avignon, auch im Tanz, durchaus Besseres zu bieten. Jan Fabre, etwa, war dem Festival vor drei Jahren als „artiste associé“ verbunden. Jetzt ist er mit einem vergleichsweise kleinen Stück wieder da, dem Solo „Another sleepy dusty delta day“, das die seit Jahren mit Fabre liierte Kroatin Ivana Jozic, die auch an der Choreografie beteiligt ist, hinreißend gestaltet. Der Titel nimmt eine Halbzeile aus einem Song – „Ode to Billie Joe“ – auf, den Bobbie Gentry 1967 geschrieben hat und der von einem jungen Mann erzählt, der Selbstmord beging, indem er sich von einer hohen Brücke stürzte. In Fabres Solo verkörpert Jozic offenbar die Geliebte jenes Billie Joe, die durch das dumme, ungerührte Geschwätz ihrer Familie beim Dinner von dem erfährt, was ihr Billie Joes Abschiedsbrief bereits angekündigt hat, und die darauf mit Hysterie und verzweifelter Wut reagiert.

Schon während das Publikum den kleinen Theaterraum in der Chapelle des Penitents blancs betritt, liegt Jozic, im cremefarbenen Sommerkleid, einen Panamahut auf dem Kopf, in einer warmen Nachmittagssonne in einem Schaukelstuhl am rechten Bühnenrand. Immer wieder liest sie in einem Papier, das sie zusammenfaltet und wieder glättet. Nach langen Minuten erhebt sie sich entschlossen. In ein Mikrophon an der anderen Bühnenseite spricht sie, zunehmend emphatischer, einen langen Monolog, der die Schönheit des Todes und die Kühnheit des Selbstmords feiert, und wenn man schon fürchtet, das werde für den Rest der Aufführung so weiter gehen, hängt sie ihren Hut auf dem Mirkophonständer, nimmt das Mikro in die Hand und singt die ersten paar Zeilen von Gentrys Ode. Im Verlauf der nächsten knappen Stunde wird sie sich immer weiter in den Song hineintasten.

Aber bevor sie ihn ganz singt, wird sie sich in einem wilden Veitstanz über en Boden wälzen, das Tempo der elektrischen Eisenbahnen erhöhen, welche das halbe dutzend kleiner Gebirgsstrecken befahren, die Fabre als Abbild der Industrielandschaft von Tallahassee aus Kohlestücken auf der Bühne errichtet hat. Sie wird aus einer Flasche, die sie in einem der Kohlehügel gefunden hat, ein – wie sie betont: belgisches – Bier schlürfen, wird die Kanarienvögel anflirten, die in Käfigen über der Szene aufgehängt sind, und sich selbst ironisch zurückpfeifen, wenn sie einem der Vögel kätzisch an den Kragen will: ein erster Verweis darauf, dass sie schließlich, wenn sie durchdreht, doch einem Vogel (aber wohl keinem echten) das Genick brechen wird. Denn natürlich gelingt es der Geliebten des toten Billie Joe nicht dauerhaft, die Kontenance zu bewahren. Ihre Gemütszustände schwanken zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, und wenn die Aufführung schließlich in einem Schrei der Wut kulminiert, hat der Zuschauer eines der besten Stücke Fabres seit langem gesehen: kaum schlechter als das große Solo „Body, little Body, on the Wall“, das Fabre dem Kollegen Wim Vandekeybus vor acht Jahren auf den gefesselten Körper choreografierte. Gleichwohl steht Fabre in Avignon im Schatten eines Größeren. Den Höhepunkt des Tanzprogramms von Avignon markiert unzweifelhaft Sidi Larbi Cherkaouis neues Stück „Sutra“. Wie der Amerikaner Alonzo King hat auch Cherkaoui Unterstützung bei den Kung-fu erprobten Mönchen des chinesischen Shaolin-Klosters gesucht. Doch nutzt er deren Bewegungsqualitäten auf eine völlig andere Weise. Während King die Mönche sich frei bewegen lässt, hat Cherkaoui sie in ein festes, vorgegebenes Schema eingebunden.

Wenn im Cour du Lycée Saint-Joseph der Vorhang aufgeht, sieht man im Vordergrund der Bühne einen Mann und ein Kind beim strategischen Spiel mit kleinen Bauklötzen. Im Hintergrund aber ist aus hellen Brettern ein Podest aufgebaut. Das betritt ein einzelner Darsteller mit einem langen Schwert, das er nach Art eines Martial Art-Kämpfers schwingt. Doch dann plötzlich, bricht das Podest auseinander. Aus den sarggroßen, rechteckigen Kisten, aus denen es bestand, zaubern sich sechzehn Männer in grauen Kuli-Gewändern, die sich als Virtuosen des Kung-fu-Tanzes entpuppen. Doch Cherkaoui lässt sie nicht einfach nur tanzen. Eine gute Stunde lang konstruieren seine Darsteller, ab und an auch in neuen Kostümen, mit den Kisten immer neue Bilder. Sie stürzen sie krachend um und bauen sie neu wieder auf: in offenen oder geschlossenen Reihen. Sie formen massive Blöcke oder lassen Hohlräume entstehen, in denen Menschen verschwinden oder aus denen sie auftauchen, das Kind immer an vorderster Linie dabei.

Phasenweise scheint der Mann, der zu Beginn mit dem Kind allein auf der Bühne war, das Spiel zu dirigieren. Dann wieder entwickelt sich zwischen ihm und der Gruppe eine Auseinandersetzung, bei der der Solist unter die Räder – sprich: zwischen oder unter die Kisten – gerät. Auch wenn die Darsteller aus dem Shaolin-Kloster bei alledem sich tanzend nie anders als in ihrem speziellen Kung-fu-Stil bewegen, ist „Sutra“ doch keine fernöstliche, sondern eine sehr westliche Choreographie geworden – ein Eindruck, den Szymon Brzóskas romantisierende Musik für Klavier, Violine, Cello und Schlagzeug unterstützt. Das Quartett ist hinter einem halbtransparenten Vorhang hoch hinter der Szene aufgebaut, wird aber nur in jenen Pausen, in denen das Geschehen auf der Bühne still zu stehen scheint, wirklich sichtbar. Der Gesamteindruck aber ist, von der ersten bis zur letzten Minute, grandios. Unter allen Ausflügen nach China, die westliche Choreografen – Akram Khan, Alonzo King – in jüngster Zeit unternommen haben, ist Sidi Larbi Cherkaouis „Sutra“ der ertragreichste: ein Stück wie ein Donnerschlag, und gleichzeitig durchsichtig wie ein klares, stilles Gewässer.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern