Tanz des Wahnsinns
Marco Goeckes Zürcher Fassung von „Nijinski“ als Wiederaufnahme am Opernhaus Zürich
Eine Ausstellung mit dem bildnerischen Werk des großen Tänzers und Choreografen in der Hamburger Kunsthalle
Es war Ende 2006, als Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier, der schon seit Jahrzehnten alles sammelt, was mit dem legendären Tänzer und Choreografen Vaslaw Nijinsky zu tun hat, zugetragen wurde, die Familie Nijinsky beabsichtige, 78 seiner Zeichnungen einzeln in einer New Yorker Galerie zum Verkauf anzubieten. Sofort setzte sich Neumeier mit den Nachfahren in Verbindung, um sie zu bitten, das Werk nicht zu zerschlagen und ihm als Ganzes zu verkaufen. Nur: Die geforderte Summe in Höhe von einer Million Dollar konnte er nicht aus eigenen Mitteln aufbringen – sein gesamtes Vermögen steckt in der umfangreichen Sammlung, die der gerade erst gegründeten Stiftung John Neumeier gehört. Neumeier wandte sich an sein Publikum, an Mäzene, Freunde des Balletts, jeden, dessen er habhaft werden konnte, und bat um Spenden zur Finanzierung des Erwerbs der Zeichnungen. Er versprach, diese Bilder zum Dank zusammen mit ausgewählten Werken seiner Sammlung öffentlich zu zeigen. Und die Hamburger ließen ihn nicht im Stich – durch Einzelspenden von 3 bis 100.000 Euro kamen 434.000 Euro zusammen, und Ende 2008 wechselten die 78 Nijinsky-Zeichnungen für insgesamt 750.000 Euro den Besitzer, wodurch jetzt insgesamt 87 Nijinsky-Zeichnungen zur Stiftung John Neumeier gehören.
Und Neumeier hielt Wort: zusammen mit Kunsthallen-Direktor Hubertus Gassner eröffnete er heute, am 100-jährigen Jubiläums-Tag der Ballets Russes, die Ausstellung „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“, die vom 20. Mai bis 16. August 2009 im Hubertus-Wald-Forum zu sehen ist. Tatsächlich ist das zeichnerische Werk Nijinskys, das dieser zwischen 1918 und 1919 schuf, also in der Zeit, als sich seine psychische Erkrankung manifestierte (sein letzter Auftritt im Suvretta-Haus in St. Moritz datiert vom 19. Januar 1919), beeindruckend. Es handele sich jedoch nicht um „bildnerische Manifestationen eines Geisteskranken“, betonte Kunsthallen-Direktor Gassner, sondern um ein eigenständiges künstlerisches Werk, unabhängig vom tänzerischen, das jetzt erstmals so kompakt zu sehen ist, komplettiert durch eine große Anzahl von Zeichnungen, Fotografien, Plakaten und Skulpturen aus Neumeiers Privatsammlung über Nijinsky (leider auf einem völlig unpassenden türkis-blassblauen Wandanstrich präsentiert).
Im Mittelpunkt von Nijinskys bildnerischem Werk steht der Kreis, der für ihn das Symbol der Vollkommenheit schlechthin ist. Es sind Bögen und Segmente, die sich zu Masken verdichten, aus denen sich Köpfe herausschälen oder eine stilisierte Tänzerin, eine Babuschka, die eigene Tochter (Kyra). Nijinsky malt mit Farbstiften und sicherer Hand – die Striche sind schwungvoll und zielsicher gesetzt, da wackelt nichts, da zittert nichts, es sind Wirbel und Schwünge, die auf den Betrachter eine eigenartige Sogwirkung ausüben, um schließlich im abstrahierten Auge zu kulminieren, das mit breitem, fast grobem Pinselstrich in brutalem und doch weichem Schwarz und in einem ebenso aggressiven wie warmen Rot gehalten ist. Nijinsky konzentriert alles in diesem Auge, es ist Alles und Nichts zugleich. Prisma des Lebens und des Schicksals, in das alles fällt und das alles spiegelt. Zentrum jeder Bewegung, Fluchtpunkt des Horizonts, Schnittpunkt von Himmel und Erde, Hüben und Drüben, Diesseits und Jenseits. Selten hat ein darstellender Künstler alle Weisheit menschlichen Seins so auf das Wesentliche reduziert ins Bild gebracht. Umso unverständlicher ist die – auf den ersten Blick allerdings durchaus nicht uncharmante – Idee der Hamburger Kunsthalle, dieses noch nie in dieser Art öffentlich gezeigte Werk mit Bildern von vier russischen Malern zu garnieren, Zeitgenossen Nijinskys (Sonja Delaunay-Terk, Leopold Survage, Vladimir Baranov-Rossiné, Frantisek Kupka). Zusammen mit Nijinskys Zeichnungen erscheinen sie jedoch seltsam fern, schwülstig, überladen, manche gar süßlich verkitscht.
Leider wurden Nijinskys Zeichnungen relativ lieblos und viel zu eng beieinander vorwiegend auf große Buchstützen gestellt, die sich auf einem Podest durch den Raum schlängeln (in den Monaten zuvor waren darauf die Tänzerinnen-Skultpuren Degas’ zu sehen). An den Wänden drumherum dagegen in großzügiger Hängung die Werke der anderen russischen Künstler. Da fragt man sich dann schon, ob die Kunsthallen-Direktion und der Kustos der Ausstellung (Daniel Koep) den Maler Nijinsky tatsächlich als solchen ernstgenommen haben – oder ob sie nicht vielleicht doch insgeheim der Meinung waren, man müsse ihm, dem Tänzer und Choreografen, einige „wahre“ bildende Künstler an die Seite stellen. Auch wenn verbal immer wieder das Gegenteil behauptet wurde – die Praxis der Hängung (oder besser: Stellung) der Werke Nijinskys in der Ausstellung selbst straft die Worte Lügen. Und warum eigentlich bildet das Plakat zur Ausstellung nicht ein Werk Nijinskys ab, sondern eines der vier anderen russischen Künstler? Völlig daneben auch ein schwarzer Kasten im Raum mit Werken über den Tänzer Nijinsky, wo ein Tisch mit Arbeitsmaterialien John Neumeiers für die Kreation des Balletts „Nijinsky“ aufgebaut ist – wie sich Lieschen Müller die Arbeit eines Choreografen so vorstellen mag: mit einem Ordner voller choreografischer Notizen, einem Modell des Bühnenbilds, historischen Berichten, der Musik-Partitur, dem (nachgeschneiderten) Kostüm des „Goldenen Sklaven“ und dem roten Kleid Romolas. Dazu ein Flachbildschirm mit Ausschnitten aus dem Ballett „Nijinsky“ und die in Endlosschleife laufende Musik von Rimskij-Korsakow. Wenn man schon zeigen möchte, woraus Neumeier sein berühmtes Ballett schöpfte, dann hätte es doch ein wenig differenzierter sein dürfen, nicht gar so platt.
Umso augenfälliger wird an diesen Mängeln und Respektlosigkeiten die Notwendigkeit eines eigenen Museum-Gebäudes für diesen kostbaren Schatz, den Hamburg mit der Sammlung von John Neumeier in seiner Mitte weiß. Es wird Zeit, dass diese einmaligen Konvolute, die es weltweit nirgendwo so gibt und die eine einzigartige Dokumentation des Tanzes und nun auch eines Teils der bildenden Kunst im 20. und 21. Jahrhundert darstellen, einen würdigen Rahmen und einen Platz zum Atmen bekommen.
„Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“, Hubertus-Wald-Forum der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall (www.hamburger-kunsthalle.de). Geöffnet täglich (außer Mo) 10 bis 18 Uhr, Do bis 21 Uhr. Eintritt 10 Euro (ermäßigt 5 Euro). Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren frei. Katalog 32 Euro.
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