Siegfrieds gescheiterte Revolution
Rudolf Nurejews „Schwanensee“ in der Opéra Bastille
Rudolf Nurejews Fassung von „La Bayadère”, nach deren Premiere im Oktober 1992 der Tänzer und Choreograf zum letzten Mal auf der Bühne des Palais Garnier stand, ist in dieser Spielzeit nach langen Aufführungsjahren in der Opéra Bastille wieder an den Entstehungsort zurückgekehrt. Dabei handelt es sich bei aller für Nurejew typischen überbordenden Üppigkeit (Kostüme Franca Squarciapino, Bühnenbild Ezio Frigerio) um eine seiner geschmackvollsten und gelungensten Produktionen, die in Paris so sorgfältig von Tänzergeneration zu Tänzergeneration weitergegeben werden. Und so wird dem Stück um die indische Tempeltänzerin Nikiya, die von ihrem Geliebten Solor für die Herrschertochter Gamzatti verlassen wird und ihm nach ihrer Ermordung durch die Rivalin in seinen opiumberauschten Träumen erscheint, immer wieder ein enthusiastischer Empfang durch das Publikum zuteil.
Wie in vielen heute gezeigten Versionen verzichtete Nurejew auf den vierten Akt, in dem Gamzatti und Solor bei ihrer Hochzeit als Strafe der Götter unter dem zusammenstürzenden Tempel begraben werden und dessen originale Choreografie verloren ist. So entsteht eine Zweiteilung des Stückes in zwei „realistische” Akte und einen „Visionsakt“, die an romantische Ballette erinnert. Während sich in den ersten beiden Akten Pantomime, folkloristische Tänze und akademischer Tanz zu einem harmonischen Ganzen verweben, ist der dritte, weiße Akt dem reinen Tanz vorbehalten.
Auf den Spuren Nurejews, der 1961 als Solor in seiner ersten öffentlichen Vorstellung in Paris durch sein gewaltiges Sprungtalent Begeisterungsstürme auslöste, wandelte in dieser Aufführungsserie Mathias Heymann. Der jüngste Danseur Etoile der Pariser Oper fiel schon unlängst durch seine weiten, hohen Sprünge und seinen „ballon” auf, doch ist es ihm gelungen, seine Technik innerhalb der letzten Monate weiter zu verfeinern. Wenn auch noch nicht völlig sicher als Partner und in seinem Spiel, so meistert er die tänzerischen Schwierigkeiten mit Bravour, bis zur gefürchteten Manège von Double tours en l’air im dritten Akt.
Seine Partnerin, Dorothée Gilbert, die ebenfalls erstmals als Nikiya zu sehen war, überzeugte durch ihre glänzende Technik, doch fühlte sich die junge Tänzerin als lyrische, fragile Nikiya deutlich weniger wohl in ihrer Haut als in der Rolle der stolzen und schillernden Gamzatti, die sie an anderen Abenden exzellent interpretierte. Das Dreiergespann der Hauptrollen wurde in jener Matinée durch ein drittes Rollendebüt komplettiert: Ludmilla Pagliero, die Gamzattis anspruchsvolle Variationen zwar korrekt tanzte, doch deren eifersüchtiger und rachlustiger Herrschertochter es an darstellerischem Profil mangelte.
Unter den weiteren Rollendebüts waren Florimond Lorieux als bemühtes goldenes Idol und Marine Ganio als charmante „Manou”-Tänzerin zu sehen; unter den etablierteren Solisten tat sich unter anderem das energiesprühende Paar Sabrina Mallem und Yann Saiz im indischen Tanz hervor.
Nurejews Geist zeigte sich vor allem beim Corps de Ballet, als dieses in beispielhafter Synchronität im Schattenakt die Rampe hinunter schritt. Einen Hauch mehr Exaktheit hätte hingegen das Colonne-Orchester unter dem Dirigentenstab von Kevin Rhodes vertragen können, das Minkus’ effektvoller Partitur nicht immer Gerechtigkeit widerfahren ließ. Doch bleibt das Werk eine der beeindruckendsten Großproduktionen des Pariser Opernballetts, die an manchen Abenden - beispielweise in der von Aurélie Dupont und Nicolas Le Riche angeführten Besetzung - den geballten Glanz der jahrhundertealten Tradition der Kompanie im prunkvollen Palais Garnier erstrahlen lässt.
Besuchte Vorstellung: 29.05.2010
www.operadeparis.fr
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