Tanz des Wahnsinns
Marco Goeckes Zürcher Fassung von „Nijinski“ als Wiederaufnahme am Opernhaus Zürich
MONS ediert die gleichnamige Anthologie über Tanz, Tänzer und ihre Zeit
Zwei Editionen sind der Neuerscheinung vorangegangen. Auch sie forschen in der Welt- und Literaturgeschichte nach Funden, die sich auf den Tanz beziehen, ihn herausheben, beschreiben oder würdigen. Beide sind 1993 erschienen: Gabriele Brandstetters „Aufforderung zum Tanz“ bei Reclam, Kurt Neffs „Vom Tanz ein Lesebuch“ bei Insel. Beiden Herausgebern ist zu danken, dass sie eine Fülle von Zitaten, Geschichten, Gedichten ausfindig gemacht haben, die zeigen, wie sehr der Tanz essenzieller Teil des menschlichen Lebens ist. Diese schöne Tradition setzt nun Natalie Fischer bei MONS mit einem bezaubernden Band fort, der sich schon vom Format her der Leserhand geradezu anschmiegt.
Wie Neffs Anthologie ziert auch „Aber es ist doch Nijinsky!“ auf dem Einband ein Kostümentwurf von Léon Bakst für den Star der Ballets Russes. Wenige Textdopplungen nur finden sich in den drei Sammelwerken. Auf knapp 250 Seiten breitet Natalie Fischer übersichtlich aus, was sie in Einteilung nach Ländern über deren Tanz und seine Interpreten aufgespürt hat. Große der Literatur kann sie dabei aufbieten. So amüsiert man sich bei Fontane über ungeschickt ausgeführte Ecossaisen, bei Heine über geschockte englische Kleinstadtladys, die erstmals Ballett sehen. Fürst zu Eulenburg, jener, der den letzten Kaiser durch eine intime Affäre in Bedrängnis brachte, berichtet über Diplomatenbälle in Wien und Europa; Ludwig Kalisch räsoniert über den Pariser Karneval, wenn angeblich die Füße den Verstand verlieren; Wilhelm Heinse hat Schweizer Tanz und Franz Grillparzer tanzende Derwische gesehen. Am meisten gereist ist Friedrich Hackländer, auch er Schriftsteller: Ihm verdankt man ausführliche Beschreibungen von spanischem Tanz und dem Tanz griechischer Knaben, teils en travesti, am türkischen Hof; und Tucholsky lässt sich über Baskensprünge aus.
Was den Sammelband indes besonders interessant macht, sind die unterschiedlichen Bewertungen von Balletten in Europa, namentlich in Frankreich und Italien. Freilich kommen hier persönliche Neigungen oder Ablehnungen des Genres zum Tragen, ebenso zeitbedingte Einschätzungen und Vorurteile. Dennoch sind gerade diese Quellen eine Fundgrube an Originalinformation, wie bestimmte Tänzer und Werke zumindest auf den Autor gewirkt haben. So erwähnt Stendhal Duports Abschiedsvorstellung und stellt ihn über Vestris und Taglioni. Vestris habe ein fabelhaftes Geschäft verrichtet, urteilt Ulrich Hegner; auf Marie Taglioni, hier wohl die Jüngere, in der Berliner „Satanella“ singt Karl Gutzkow, auf die ältere, berühmtere Ludwig Börne eine Lobeshymne. Casanova wiederum ist vom schon älteren Dupré begeistert, noch mit Maske und riesiger Perücke, und auch von der springwütigen Camargo, die Bein zeige. Während Grillparzer wenig Schmeichelhaftes über die Elßler-Schwestern schreibt, Fanny etwa sei ein „Frakturalphabet“, so ist Heine von der Grisi in „Giselle“ so hingerissen, weil sie Taglioni und Elßler vergessen mache. Da mögen persönlicher Geschmack und Geschmeicheltsein einfließen, schließlich fußt „Giselle“ auf einer Notiz Heines.
Goethe fand die Ballette in Vicenza „allerliebst“; Seume sah in Mailand nur gute Springer, doch keine guten Tänzer; Fanny Lewald hat „Faust“ als Ballett an der Scala rundum überzeugt; Grillparzer konstatiert in Paris den Verfall der schönen Tanzkunst.
Recht dürfte jeder haben, war es doch der Übergang von der pantomimelastigen Aufführung zum Handlungsballett, das, einmal geboren, dann inflationär in immer ähnlichen Werken die Bühnen überflutete. Wenig davon hat die Gegenwart erreicht. So komisch jener „tutu“-Prozess anmutet, wie ihn Theodor Wolff beschreibt, ist er doch auch Ausdruck der berechtigten Kämpfe in der Kunstgattung Ballett. Näher am schon Errungenen sind die Tagebuchnotizen von Harry Graf Kessler: Aus ihnen erfährt man viel Authentisches über die Ära der Ballets Russes und die Künstler um diese wegbereitende Gruppe herum. Etwa von einer Begegnung mit dem schon kranken, kaum mehr wiederzuerkennenden Nijinsky. Diese Episode gab den Titel einer spannend zu lesenden Kostbarkeit, der ein Glossar sowie eine Liste der Autoren und Quellen Nachschlagecharakter geben. Sehr zu empfehlen!
Natalie Fischer (Hrsg.): „Aber es ist doch Nijinsky!“, MONS Verlag, Berlin 2017, 265 S., mehrere Abb., Hardcover, 19,90 Euro, ISBN 978-3-946368-31-1, www.monsverlag.de
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