Ein überfälliges Thema
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Das geniale Musikerpaar Robert Schumann (1810-56) und Clara (geb. Wieck, 1819-96) bietet seit je beliebten Stoff für andere Künste. Filme zeigten Clara als selbstbewusste Künstlerin (Katharine Hepburn) oder als süßes Mädchen (Nastassja Kinski). Die Ehe mit Robert Schumann wurde literarisch interpretiert als künstlerischer Glücksfall, später aber auch als verkapptes Patriarchat: Dann ist, feministisch gesehen, der Mann eifersüchtig auf seine erfolgreiche Frau, der ihr acht Kinder macht, um sie ans Haus zu fesseln.
Die Chefin des Ballett Zürich, Cathy Marston, hat nun ihrerseits über das Ehepaar Schumann ein gut zweistündiges Ballett „Clara“ kreiert. Ein aufwendiges und üppiges Werk, das bei seiner Uraufführung am 11. Oktober am Opernhaus große Begeisterung erntete.
Der 1. Akt zeigt, wie sich Claras Eltern nach der Scheidung um das musizierende und bereits komponierende Wunderkind reißen, wie das Mädchen seine Ehe mit Robert Schumann gegen den Vater Friedrich Wieck durchsetzt. Im 2. Akt liebt und vermehrt sich das Paar im Nu. Clara vermittelt Robert eine Stelle als Dirigent, der wütet mit seinem Orchester, bis ihm der Dirigentenstab aus der Hand genommen wird. Schubweise verfällt Schumann dem Irrsinn. Verzögert wird der Zerfall durch das Auftauchen des jungen Komponisten Johannes Brahms, ein Glücksbringer sowohl für Robert wie für Clara. Der 3. Akt zeigt eine Liebesszene zwischen Clara und Brahms, Roberts Tod in der Anstalt, die Beerdigung, zuletzt Johannes’ Flucht nach Irgendwohin.
Die Frauen tanzen neoklassisch
Claras Rolle (nicht nur) im Ballett ist so anspruchsvoll vielseitig, dass Marston sie gleich auf sieben Tänzerinnen verteilt. Sie sind alle klein und leicht, haben dunkle hochgesteckte Haare mit strengem Mittelscheitel. Ihre etwas unterschiedlich geschnittenen Kleider sind oben schwarz und unten weitschwingend weiß. Laut Szenario verkörpern die Tänzerinnen verschiedene Aspekte aus Claras Biografie: Wunderkind, Künstlerin, Ehefrau, Mutter, Pflegerin, Managerin, Muse.
Die sieben Claras tanzen alle auf Spitze, in vielen Varianten der Neoklassik. Anmutig, leidenschaftlich, virtuos. Eine der Tänzerinnen ist dauernd auf der Bühne, oft auch mehrere oder alle zusammen. Als Individualitäten lassen sie sich kaum auseinanderhalten. So sind es ironischerweise ausgerechnet die männlichen Rollen, deren Charakter haften bleibt: Esteban Berlanga als Friedrich Wieck, Chandler Dalton als Johannes Brahms und Karen Azatyan als Robert Schumann.
Azatyan, von Marston frisch vom Ballett Hamburg weg nach Zürich engagiert, sieht mit seinem schwarzen Haar und den brennenden Augen zwar ganz anders aus als der deutsche Komponist von damals. Eher wie ein Latin oder vielmehr Armenian Lover. Aber er überzeugt in seiner Rolle, erschüttert vor allem in den Krankheits-Szenen in der Zerrissenheit der Gefühle. Marston betont schriftlich und mündlich, wie stark Azatyan, aber auch viele andere Mitwirkende an der Choreografie mitgestaltet haben. Das scheint auch unumgänglich gewesen zu sein für das aufwendige Ballettwerk.
Starpianistin im Orchestergraben
Sieben Clara-Tänzerinnen bewegen sich also auf der Bühne. Aber nur eine einzige Pianistin, die Deutsche Ragna Schirmer, spielt die vielen Klavierstücke und Konzert-Soli aus der Ballettpartitur, die sich aus Werksteilen von Brahms, Clara und Robert Schumann zusammensetzt. Schirmer ist eine großartige Pianistin und Clara-Schumann-Spezialistin. Sie sitzt ziemlich verschupft und eingeklemmt unten im Orchestergraben – hinter ihr zupft eine Harfenistin an ihrem Instrument – und kann sich erst beim Schlussapplaus outen. Der braust ihr dann aber verdientermaßen ungebremst entgegen.
Fühlbar motiviert breitet die Philharmonia Zürich unter Daniel Capps den von Philip Feeney zusammengesetzten Musikteppich aus. Es beginnt mit einem schlichten Präludium von Clara, dehnt sich im 2. Akt zu einem dichten Szenario vor allem mit Robert-Schumann-Kompositionen aus und endet mit den bewegenden Klängen aus dem Adagio von Johannes Brahms’ Klavierkonzert Nr.1.
Die sieben Stufen der Tonleiter
Die Zahl sieben, so erklärt Marston, soll auch an die sieben Melodietöne einer Tonleiter erinnern sowie an die entsprechenden Tasten auf dem Klavier. Diese Idee übernimmt höchst eindrucksvoll Bühnenbildnerin Bregje van Balen. Da schieben sich dicke weiße Balken zu Wänden zusammen, führen rechteckige schwarze Durchgänge zu verschiedenen Spielorten. Klaviertasten bieten Sitzgelegenheiten, lassen Bühnenräume entstehen, trennen innen und außen, wörtlich und in übertragenem Sinn. Als einziges rundes Element zeichnet sich auf dem Bühnenboden das schräg gestellte Versatzstück eines Klavierflügels ab.
Auch sonst stößt man immer wieder auf die Zahl Sieben. Sieben Paare kommen zu Besuch, sieben Männer tragen Schumanns Sarg. Amüsante Ausnahme: Von den sieben überlebenden Kindern, die Clara Schumann großgezogen hat, spielen im Ballett nur fünf auf der Bühne mit. Es sind Schülerinnen und Schüler aus der Tanz Akademie Zürich. Sie bilden auch keine Orgelpfeifen, sondern sind alle etwa gleich groß.
Manchmal geht es zu schnell
Zwei Stunden 40 Minuten (inklusive zwei Pausen) dauert das Ballett „Clara“. Sehr dicht ist das Szenario, das Marston zusammen mit ihrem bewährten Mitarbeiter, dem englischen Literaten Edward Kemp, entwickelt hat. Auf der Bühne gibt es keine toten Stellen. Höchstens, dass es manchmal zu schnell geht: Das Paar feiert Hochzeit – und schon sind die vielen Kinderlein da. Robert übernimmt das Orchester – und gleich beginnt der Absturz. Am gemächlichsten läuft die Handlung im ersten Akt ab: Da erlebt man nicht nur, wie sich das Ehepaar Wieck streitet und Clara heranwächst. Sondern auch, dass Schumann in Christel, dem Dienstmädchen der Familie Wieck, eine heimliche Geliebte hat, die er dann aufgeben muss. Übrigens: Christel (Francesca Dell’Aria) ist die einzige Tänzerin, die keine Spitzenschuhe trägt, sondern nur Schläppchen.
Dreiecksbeziehungen führen zu dramatischen Ballett-Höhepunkten: Clara zwischen Vater und Mutter, Clara zwischen Vater und Geliebtem, Clara im harmonischen Dreieck mit Schumann und Brahms. Dazu kommen überraschend kreativ gestaltete Liebesszenen, zuletzt zwischen Clara und Brahms. Der hat im Ballett zwar die Bühne demonstrativ verlassen, spielte aber in Wirklichkeit eine wichtige Rolle in Claras weiterem Leben. Sie lebte nach Roberts frühem Tod 1856 noch 40 Jahre lang weiter als besorgte Familienfrau, Komponistin und weltweit gefeierte Konzertpianistin.
Alles in allem: Ein faszinierendes Gesamtkunstwerk.
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